Der deutsche Boxsport hat nur einen Weltmeister, und der klagt nun gegen seinen eigenen Boxstall. Tyron Zeuge will Sauerland unbedingt verlassen.
Wer darf’s denn sein? Altmeister Arthur Abraham, dessen Zenit zwar klar überschritten ist, der in Box-Deutschland aber immer noch einen großen Namen hat? Oder vielleicht doch lieber Jungstar Vincent Feigenbutz, der früh hochgejubelte und anschließend hart gefallene „K.o.-Prinz"? Tyron Zeuge hat als einziger deutscher Profi-Boxweltmeister die Qual der Wahl. „Ich überlasse meinem Management, was da passiert", sagte der 25-Jährige nach seiner erfolgreichen WM-Titelverteidigung im März gegen den überforderten Nigerianer Isaac Ekpo in Hamburg.
Und genau hier liegt das Problem: Mit seinem Management, Sauerland Event, liegt der Supermittelgewichtler im Klinch. Nicht nur das, es droht sogar ein Gerichtsstreit. Zeuge will sich nicht mehr länger von dem Boxstall promoten lassen, bei dem er zum Champion gereift ist. Er und sein Anwalt haben den bis 2019 gültigen Vertrag bereits schriftlich gekündigt. Sauerland erkannte die Kündigung allerdings nicht an, also klagte Zeuge. Die Fronten sind verhärtet, man kommuniziert fast ausschließlich über Anwälte miteinander.
Worum geht es genau? „Es gibt verschiedene Gründe, die die Vertragsbeendigung rechtfertigen", sagt der Sportler. Ins Detail geht er nicht. Dem Vernehmen nach geht es um angeblich nicht eingehaltene Zusagen und unterschiedliche Auffassungen der sportlichen Zukunft. Es ist kein Geheimnis, dass bei Sauerland der Gürtel deutlich enger geschnallt wurde. In dem Boxgeschäft lässt sich längst nicht mehr so viel Geld verdienen wie zu Glanzzeiten eines Henry Maske oder Axel Schulz.
Umso wichtiger wäre daher Zeuge als sportliches Zugpferd für Sauerland und die kriselnde Branche. Doch der will seinen eigenen Weg gehen, manche sagen auch, er will den Weg seines Mentors Jürgen Brähmer gehen. Der noch immer aktive Ex-Weltmeister trainiert Zeuge seit einigen Jahren in seinem Camp in Schwerin, sein Einfluss auf den Athleten ist enorm. Nur eine Woche vor Zeuges Vertragskündigung hatte auch Brähmer seinen Abschied bei Sauerland offiziell verkündet. Sicher kein Zufall.
Für Brähmer waren die Zustände im einst so ruhmreichen Sauerland-Boxstall nicht mehr hinnehmbar. „Ich habe zuletzt mehr als den Trainerjob ausgefüllt. Mein Team und ich haben sich um das Management gekümmert, Sparringspartner verpflichtet und die Reiseplanung organisiert", sagte der 39-Jährige der Bild-Zeitung. „Wenn wir sowieso alles selber machen, wozu braucht man dann Sauerland Event?"
Kritik, die hinter vorgehaltener Hand schon mehrfach geäußert wurde. Vor Brähmer hatten auch schon der frühere Amateur-Weltmeister Jack Culcay, Enrico Kölling und Stefan Härtel den Sauerland-Boxstall verlassen. Sauerland Event will von einer Boxer-Flucht nichts wissen. „In Zukunft setzen wir auf mehr Qualität statt Quantität bei den Boxern", sagte Kalle Sauerland.
Aufgrund des Spardrucks kam es auf der Geschäftsstelle zu personellen Einschnitten, die Zentrale wurde von Berlin nach Hamburg verlegt. Kulttrainer Ulli Wegner, der in Berlin unter anderem Abraham, Marco Huck und Markus Beyer zu Weltmeistern geformt hat, hatte sich in der Vergangenheit immer mal wieder kritisch zu bestimmten Maßnahmen des Boxstalls geäußert – und wurde dafür intern gerüffelt. Am ersten Juni-Wochenende sollte eine Entscheidung über Wegners persönliche Zukunft fallen, das Box-Gym auf dem Berliner Olympiagelände ist zumindest für die kommenden zwei Jahre gesichert.
„Es gab früher die Boxställe Universum und Sauerland, die das Boxen in Deutschland groß gemacht haben. Universum gibt es nicht mehr, und ich sehe ähnliche Anzeichen bei Sauerland", sagte Ex-Weltmeisterin Regina Halmich in der AZ. „Ich will nicht zu sehr ins Detail gehen, aber da zerbröckelt einiges. Es wäre fatal, wenn die nächste Säule im deutschen Boxen wegbrechen würde."
Wegner hatte auch moniert, dass von der Familie Sauerland kein Vertreter bei Abrahams erfolgreichem WM-Ausscheidungskampf vor einem Jahr in Erfurt gewesen war. Vater Wilfried Sauerland zieht sich mit seinen 79 Jahren mehr und mehr aus dem Geschäft zurück, Sohn Kalle fokussiert sich auf seine Arbeit bei der „World Boxing Series", die recht erfolgreich gestartet ist.
Die Quoten von Sauerland-Kämpfen sind mau
Sauerland ist Chief Boxing Officer der eigens für das 50-Millionen-Dollar-Turnier um die Muhammad-Ali-Trophy gegründeten Comosa AG mit Sitz in der Schweiz. Bei dem Turnier küren die besten Boxer einer Gewichtsklasse den ultimativen König. „Alle diese Fights", sagt Sauerland, „stehen für atemberaubendes Entertainment und eine große Show."
Gut unterhalten gefühlt haben dürfte sich der deutsche Boxfan zuletzt kaum noch. Und das hat Konsequenzen. Die Quoten beim von Sauerland-Kämpfen übertragenden Sender Sport1 sind mau, auch bei WM-Kämpfen von Zeuge. Bei seiner erfolgreichen Titelverteidigung gegen Ekpo schalteten gerade einmal 590.000 Zuschauer ein. Und die bekamen Zeuges K.o.-Schlag in der zweiten Runde noch nicht mal mit, weil der TV-Sender zu spät aus der Werbung zurückgeschaltet hatte. Zeuge bewies Humor und postete am nächsten Tag: „Um Euch trotz Werbeunterbrechung auf dem Laufenden zu halten: Ich habe gewonnen!"
Wie sein juristischer Kampf gegen den eigenen Boxstall ausgeht, ist dagegen ungewiss. Fakt ist, dass Sauerland sein bestes Pferd im Stall nicht freiwillig ziehen lassen wird. „Wir haben einen rechtlich bindenden Vertrag bis Ende 2019 mit Tyron, den wir bisher erfüllt haben und auch weiterhin erfüllen werden", betont Nisse Sauerland. Der Bruder von Kalle Sauerland vermisse Dankbarkeit beim abwanderungswilligen Champion: „Wir haben Tyron zum Weltmeister gemacht und seit dem ersten Tag als Profi sehr viel in ihn investiert. Team Sauerland ist stolz, dass er seinen Titel mehrfach verteidigen konnte, und wir freuen uns auf weitere große Kämpfe mit Tyron."
Bis zur Klärung der Rechtsgrundlage wird Zeuge wohl oder übel für Sauerland in den Ring steigen müssen, das weiß er auch. „Bis zur Entscheidung über diese Klage werde ich den Vertrag erfüllen", sagt der Boxer. „Sauerland selbst hatte als nächsten Gegner Vincent Feigenbutz vorgeschlagen. Ich bin bereit, gegen ihn zu boxen."
Auch für seinen Trainer Brähmer wäre dies „ein spannender Kampf, den man in Deutschland sehen will". An einem Sieg seines Schützlings zweifelt er nicht: „Tyron hat in seinen letzten Kämpfen viel an Erfahrung gewonnen und ist jetzt so weit, zwölf Runden auf technisch hohem Niveau zu gehen." Im Rechtsstreit zwischen Zeuge und Sauerland hält sich Brähmer öffentlich bedeckt. Er sagt aber, er könne „diesen Schritt absolut nachvollziehen und werde ihn unterstützen".
Nun ist es nicht so, dass es Schlammschlachten im Boxsport noch nie gegeben hat. Doch früher hatten sie das Interesse der Fans nur noch gesteigert, der Zwist zwischen Zeuge und Sauerland interessiert das breite Publikum dagegen kaum. Warum? Weil Zeuge, der häusliche Currywurst-Liebhaber, wahrlich kein schillernder Vertreter seiner Zunft ist.
Henry Maske, der zu aktiver Zeit auch kein Sprücheklopfer war, der aber das Image des Gentleman bis zur Perfektion beherrschte, hält nichts davon, für Zeuge und Co. gekünstelte Marketingstrategien zu entwerfen: „Wenn kein Gänsehautgefühl vorhanden ist, dann können sie marketingtechnisch die tollsten Sachen entwickeln. Wenn der Sportler das nicht hergibt, dann passiert nichts." Trotzdem schlägt Maske nicht in die Untergangsstimmung mit ein, das Boxen habe in Deutschland „nach wie vor seine Daseinsberechtigung und auch die Chance, wieder eine Resonanz zu erreichen, über die man sprechen kann".
Aber selbst Kalle Sauerland gibt zu, dass der Boxsport hierzulande „seit Jahren nicht immer gesund" sei. Neidisch schauen die Verantwortlichen mittlerweile nach England, wo Promoter mit Anthony Joshua und Co. viel, viel Geld verdienen. „In Deutschland müssen die Helden von morgen organisch wachsen", sagt Sauerland. „Wunder passieren nicht über Nacht."
Um neue Weltmeister auszubilden, muss man allerdings auch investieren. Ob und wie Sauerland das in einem schwächelnden Markt noch tun will, wird sich zeigen. In Sport1 hat der Boxstall zumindest einen TV-Partner an der Seite, der an eine bessere Zeit glaubt. „Boxen hatte eine tolle Vergangenheit und soll eine große Zukunft haben", sagt Sport1-Geschäftsführer Olaf Schröder. Er sieht Boxen nach Fußball und Formel 1 als „Sportart Nummer drei".
Ob das die Zuschauer genauso sehen? Am ersten Juni-Wochenende übertrug Sport1 über vier Stunden eine Boxgala aus Hannover mit dem Hauptkampf zwischen Artur Mann und Alexander Peil – zwei deutschen Hoffnungsträgern aus dem Cruisergewicht, die aber der breiten Öffentlichkeit völlig unbekannt sind.