Mathias Schilling lebt mit Frau und Tochter, einem Hund, 140 Rindern und 60 Heidschnucken auf einer kleinen Insel zwischen Hiddensee und Rügen. Die Insel Öhe ist Deutschlands einzige in Privatbesitz.
Mathias Schilling schippert seinen Kahn vom Hafen des Fischerdorfes Schaprode in Richtung der 75 Hektar großen Insel Öhe. Nur etwa 50 Meter Wasser liegen zwischen Festland und Insel. Eine schmale Baumallee mit über hundert Jahre alten Bäumen führt wie ein Empfangskomitee vorbei an weiten Salzwiesen, auf denen an die 140 Rinder der französischen Rassen Blonde d’Aquitaine und Limousin sowie 60 Heidschnucken weiden. Die Insel Öhe liegt mitten im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft. Die Rinder ruft der Bio-Landwirt alle mit Namen. Jedes schaut kurz hoch und erwidert brüllend, als stünde es mit ihm auf Du und Du. Hinter den Weiden ringsum ein 180-Grad-Meerblick auf den Schaproder Bodden. Am Ende der Allee stehen ein einfaches, weiß getünchtes Gutshaus mit Garten, lang gestreckte Stallungen und das ehemalige Gesindehaus, in dem Mathias Schilling mit seiner Frau und der vierjährigen Tochter Calotta lebt. Er zog von Berlin nach Rügen auf die Insel Öhe. Seine Frau Nicole ist Investmentbankerin und stammt aus Demmin. Sie leitet das Büro und führt die Buchhaltung.
„Wir mussten vor allem sehr schnell und sehr viel lernen", erzählt der 36-jährige Bio-Landwirt. Begonnen hatte seine inzwischen einträgliche Rinderzucht mit ein paar wenigen Kälbern, die er sich gekauft und noch „mit dem Eimer", mit künstlicher Milch großgezogen hat. Seine Muttertiere ziehen jetzt ihre eigenen Kälber heran. In extensiver Weidemast bleiben die Tiere 30 Monate auf der Weide und fressen nichts anderes als Gras. Die französischen Rassen sind für ihr besonders zartes, feinfaseriges Fleisch bekannt. Hier haben sie obendrein saftiges Salzwiesengras und frische Ostseeluft. „Salzwiesen haben einen besonders hohen Natriumgehalt, und es wachsen hier viele Kräuter. Das schmeckt den Tieren, und das kommt dem Geschmack des Fleisches zugute. Die reine Weidehaltung erkennt man am Muskelfett, das leicht gelblich ist und einen intensiven Eigengeschmack hat", erklärt Schilling.
Ein Bio-Landwirt durch und durch
Ein Gewicht von 260 bis 300 Kilo müssen die Rinder erreichen, bevor sie zum Schlachthof gebracht werden. Seit 2011 beliefert Mathias Schilling den traditionsreichen Gasthof in Schaprode, den er gekauft hat. So weiß er, für wen er produziert. Als ehemaliger Hotelkaufmann profitiert der Agrarwirt von den früheren Berufserfahrungen. Auf der Speisekarte des Restaurants „Schillings Gasthof" steht das Salzwiesenrindfleisch der Insel Öhe. Jedes Teil vom Rind wird zu einem extra Gericht verarbeitet. Für den Hofladen nebenan produziert er Salamis und Wurst im Glas.
Außerdem gibt es frisch gefangenen Fisch aus den Fangnetzen der Hiddenseer Fischer. Dorsch, Hering, Steinbutt, Zander oder Wildlachs. Um die Ecke in der kleinen Fischkate kann man frische Fischbrötchen kaufen, die „Scharfer Käptn" heißen oder „Omabrötchen". Vor zwei Jahren entwickelte der Jungunternehmer mit den Fischern die Marke „Hiddenseer Kutterfisch". Der Landwirt und Gastronom schuf mit ihnen neue Vermarktungsstrategien und Vertriebswege für den Hering und erhielt Unterstützung vom Bund im Rahmen des „Landaufschwung"-Programms für die Umsetzung von Projekten in der Region Vorpommern-Greifswald. Auf Hiddensee und Kloster eröffnete er die Selbstbedienungsgaststätte „Schillings Hafenamt". Demnächst macht sein Fischhaus „Hafenkater" in Vitte auf.
„Wir versuchen, sinnvoll Dinge wieder aneinanderzufügen, die ursprünglich einmal alle funktioniert und zusammengehört haben. Nur sind sie in Vergessenheit geraten", sagt Schilling. Dabei wirkt sich die Urlaubsregion mit den vielleicht kaufkräftigeren Kunden für ihn positiv aus. Das Leben hier sei nicht vergleichbar mit einem städtischen Umfeld, wo man sich entsprechende Ladenmieten gar nicht leisten könne. „Bevor wir mit unserem Konzept begonnen haben, war Schaprode ein Durchgangsort, hier gab es noch gar nichts. Inzwischen hat eine Eisdiele aufgemacht mit komplett selbst produziertem Eis ohne künstliche Aromen. Auch andere Leute werden sich noch ansiedeln. Wir versuchen, eine Straße der Nachhaltigkeit, letztlich der alten Ideen, wieder aufleben zu lassen. Daran arbeiten wir konsequent Stück für Stück." Auf lange Sicht will Schilling die Produktion der Fischkonserven erhöhen, um so etwa ein Drittel oder gar die Hälfte der Hiddenseer Kutterfische vermarkten zu können. Das wären etwa 200.000 Dosen pro Jahr.
Eine Straße der Nachhaltigkeit
Im Sommer ist Öhe ein Segen, im Winter hartes Leben. „Es gibt den Blick auf Öhe und den Blick von Öhe weg. Wenn man sich hier niederlässt, lebt man mit der Natur. Das ist nicht nur romantisch. Wir sind jedem Wetter, jedem Sturm, jedem Frost extrem ausgesetzt. Das erfordert Durchhaltevermögen. Für die Überfahrt nach Schaprode brauchen wir normalerweise eine Minute. Wenn das Wasser zugefroren ist, und eine Art Packeis entsteht, dann kann es bis zu zwei Stunden dauern. Wenn alle Tränken einfrieren, muss ich das Wasser für die Rinder bei minus 20 Grad erst auftauen."
Auf ihrer Insel leben die Schillings abgeschieden. Ab und an kommen von Westrügen auch schon mal Wildschweine, Dachse und Rehe herüber. Anfangs wurden Schillings „die von der Insel" genannt und gar nicht richtig zum Dorf zugezählt. „Wenn man dann an die Generationen vor uns denkt, was für schwere Zeiten die eigentlich gehabt haben, mit Weltkriegen, mit Weltwirtschaftskrisen, dann haben wir eine wunderbare und gute Zeit, in der wir leben. Also möchte ich in meiner Verantwortung aus der Insel möglichst viel rausholen. Und mit jedem Widerstand, mit jedem, der sich gegen uns stellt, wird die Beharrlichkeit eigentlich noch größer."
Den Reiz und die Schwierigkeiten der Zurückgezogenheit erlebten schon seine Vorfahren. Die ersten urkundlichen Erwähnungen der Scholle stammen von 1315, von einem Ritterlehen „von der Wisch". Die zweite Generation hatte sich bereits in „von der Öhe" umbenannt. Gottfried von der Öhe war der letzte, der den Namen trug. Er hatte keine eigenen Kinder. Seine Schwester heiratete den Naturforscher Wilhelm Schilling. Sie hatten fünf Kinder. Das war um 1830. Gottfried wollte dem ältesten Sohn seiner Schwester, Theobald, die Insel Öhe vererben. Dem lag aber nichts an diesem Stück Erde, er fuhr zur See und landete in Valparaiso.
„Danach übernahmen seine beiden Schwestern Ida und Loretta von 1860 bis 1921 die Insel. Beide waren starke Persönlichkeiten und gingen schon damals in Hosen vor die Tür", berichtet Schilling stolz. Allerdings fühlten sie sich von der Männerwelt nicht ernst genommen. Gerade Loretta hat sich im extremen Kampfgeist gegen diese Männerdominanz durchgesetzt. In einer Zeit, in der Frauen noch kein Wahlrecht hatten, schrieb sie das Buch „Mein Kampf ums Recht". Darin schildert sie, wie sie gegen den Nachbar-Gutsbesitzer kämpfte, ohne den sie nichts allein entscheiden durfte. Hier im Amtsgericht verlor sie meist die Prozesse, aber in Stettin, im Oberlandesgericht, gewann sie manchen Streit. Außerdem überwarf sie sich mit dem Pastor. Und als die Postzustellung zur Insel Öhe eingestellt werden sollte, setzte sie sich durch. Die Postboten brachten weiter die Briefe auf die Insel.
Reiz der Zurückgezogenheit
Man erzählt sich sogar, die Schwestern hätten sich mit der Waffe gegen aufdringliche Rügener verteidigt. Loretta schrieb in ihrem Buch folgendes Vorwort: „Erst wägen, dann wagen aber nimmer verzagen". Diesen Slogan hat sich Mathias Schilling zu eigen gemacht. „Mein Bestreben, alles zu einem erfolgreichen Modell zu entwickeln, kommt daher, dass ich bei schwierigen Bedingungen immer vor Augen hatte, wie meine Tanten ihren Lebenskampf gefochten haben, auch wenn nicht immer alles zum Erfolg führte. Also, wenn ich etwas anpacke, überlege ich vorher gut. Und dann ziehe ich es durch."
Lorettas Schwester Ida vererbte nach deren Tod die Insel an Mathias Schillings Großvater. Somit blieb sie in der gleichen Ahnenlinie. Die Großmutter hütete zu Ostzeiten auf Öhe Pommersche Landschafe. Die etwas raue, aber besonders dichte Wolle verkaufte sie an die Insulaner, die dadurch immer wärmende Kleidung hatten. Der Enkel Mathias Schilling, der in Schleswig-Holstein aufwuchs, besuchte seine Großeltern oft auf der Insel. Vor zwölf Jahren übernahm er den Familienbesitz. „Hier ist eine andere Geschwindigkeit, Weite und Ruhe. Kein Investor. Kein Nachbarstreit, wer wann Wäsche aufhängen, mähen oder grillen darf. Es ist das Paradies auf Erden.
Öhe ist einer der einsamsten Flecken Europas mitten in Deutschland. Anfangs, als Mathias Schilling noch zwischen seiner Arbeitsstelle in Berlin und der Insel Öhe hin und her pendelte, war er manchmal werktags wochenlang allein und abends fiel ihm auf, dass er seit dem Morgen kein einziges Wort geredet hatte. „In dieser Zeit fühlte ich mich tatsächlich einsam, gerade weil ich das Stadtleben gewohnt war. Heute habe ich so viel um die Ohren, dass ich das Alleinsein überhaupt nicht mehr empfinde. Meine Großmutter hat immer gesagt: ‚Wer einsam ist, der hat es gut, weil keiner da ist, der einem etwas tut.‘ Da ist schon etwas Wahres dran", meint er. Für die Zukunft kann er sich vorstellen, den Umsatz des Unternehmens zu verdoppeln. „Aber das wäre dann auch die Grenze des Machbaren, die wir uns selber setzen. Es soll überschaubar bleiben."
Circa 700 Meter läuft er jeden Tag durch die von seinen Urgroßtanten gepflanzte Baumallee. „Diese Schönheit der Insel führe ich mir immer wieder vor Augen. Ich bin mir bewusst, dass man nicht nur im Heute lebt, sondern dass man auch für kommende Generationen etwas schaffen sollte. Hier auf Öhe bin ich trotz der Schnelllebigkeit der Zeit für gewisse Momente am Tag völlig auf mich allein gestellt. Dann denke ich über meine eigene Position und die Schwierigkeiten nach und hinterfrage, ob es denn wirkliche Probleme sind oder zuweilen nur Eitelkeiten."
Dass er sich mit seiner Familie auf dieses Insel-Wagnis eingelassen hat, bereuen er und seine Frau nicht. „Das Glück ist unsere Insel."