Die Skyline von Tel Aviv erinnert an New York: Die glitzernden Fassaden sind ein Zeichen dafür, dass Israels Hochtechnologie floriert. Doch jenseits der obersten Businessklasse wächst die soziale Kluft. Und die kann sich das Land eigentlich nicht leisten.
Die Touristengruppe auf dem breiten Mittelstreifen des Rothschild-Boulevards springt aufgeregt zur Seite. Ein Mann auf seinem Tretroller mit Elektroantrieb flitzt vorbei – 30 Sachen waren das bestimmt, meint einer aus der Gruppe. Die Tel Aviver lieben das: Mit Klappfahrrädern, Rollern, Mountain Bikes – alles elektrisch angetrieben – schlängeln sie sich auf den chronisch verstopften Straßen durch den Verkehr. Technik macht Spaß in der High-Tech-Hauptstadt des Wirtschaftswunderlandes Israel.
In keinem Land der Welt gibt es gemessen an der Einwohnerzahl so viele Start-ups wie in Israel. In dem Land leben 8,9 Millionen Menschen (75 Prozent Juden; 21 Prozent Araber), weniger als in Baden-Württemberg. Und dennoch hat Israel 92 Firmen an die US-Börse Nasdaq gebracht, mehr als jedes andere Land außer den USA und China (Deutschland hat acht). Der israelische Pharma-Konzern Teva ist der weltweit größte Hersteller von Nachfolgemedikamenten (Generika) und gehört zu den zehn größten Arzneimittelherstellern weltweit. IT-Riesen wie Apple, Cisco, Google, Intel, Microsoft und IBM unterhalten dort Forschungszentren. Politiker und Unternehmer aus der ganzen Welt pilgern hin, um zu ergründen, worin das Geheimnis des israelischen Innovationsgeistes besteht. Zum Beispiel bei der Firma Argus. Sie hat eine Software entwickelt, die die modernen computergesteuerten Autos vor Cyberangriffen von außen schützen soll – ein Alptraum für jeden Fahrer. „Stellen Sie sich vor, dass Sie sich auf der Autobahn befinden und plötzlich wird das Auto bis zum Stillstand abgebremst", sagt Yoni Heilbronn, Marketingchef von Argus. „Ohne dass Sie das wollen. Das ist nicht nur furchteinflößend, sondern auch sehr gefährlich." Im vergangenen Jahr hat der deutsche Autozulieferer Continental das Start-up für mehr als 400 Millionen Euro aufgekauft, um die Innovation weltweit zu vermarkten.
In Israel entwickelte Dov Moran mit seiner Firma M-Systems die Speichertechnologie für den USB-Stick. 2006 verkaufte er seine Firma für 1,6 Milliarden Dollar an Scandisk. Auch Microsoft hat das große Wissen im Land erkannt und wesentliche Teile seiner Windows XP-Software hier entwickeln lassen. Die Telefonie über das Internet wurde ebenfalls in Israel erfunden. Und das Land ist eines der wenigen auf der Welt, das eigene Satelliten mit eigenen Trägerraketen in den Weltraum schießen kann. Manch einer könnte vermuten, dass dabei auch das Militär seine Hände im Spiel hatte.
High-Tech im Ausbildungscamp der Armee
Denn ein Grund für den Wirtschaftserfolg ist die Nähe zur Armee, auf die ganz Israel stolz ist. Manche sagen, Israel ist nicht ein Land mit einer Armee, sondern umgekehrt: Israel ist eine Armee, die sich ein Land leistet. Natürlich herrscht Wehrpflicht. Frauen müssen zwei Jahre und zwei Monate, Männer zwei Jahre und acht Monate zum Militär. Dort lernen sie nicht nur schießen und Panzer fahren. Die Ausbildung umfasst auch Informatik und Technologie. In einem Ausbildungscamp in Beer Sheba in der Negev-Wüste finden regelmäßig „Hacker"-Wettbewerbe für Offiziersanwärter statt. Besonders viel Nachwuchs für die Tech-Branche kommt aus der legendären Einheit 8.200. Sie ist Teil des Militärgeheimdienstes, zuständig für die Cyber-Abwehr und Cyber-Angriffe.
Ein weiterer Grund ist die Zuwanderung. Noch Mitte der 80er-Jahre lebte Israel von Landwirtschaft und traditioneller Industrie. „Doch als diese Industrie nach Asien abwanderte, begann die Regierung die erste öffentlich-private Partnerschaft, um technologieorientierte Firmen zu fördern: Für jeden privat investierten US-Dollar gab der Staat einen weiteren Dollar", schreibt Saul Singer, Autor des Buches „Start-up Nation". Dann zerbrach 1991 die Sowjetunion, eine Million sowjetischer Juden zog nach Israel, darunter viele Ingenieure und Wissenschaftler. Und das sei eines der größten Geschenke, die der Staat je bekommen habe, so Singer.
Drittens hat Bildung traditionell einen hohen Stellenwert im jüdischen Selbstverständnis. Die staatlichen Bildungsausgaben liegen knapp hinter den Militärausgaben bei 5,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – in Deutschland sind es 4,2 Prozent. Fast die Hälfte der Israelis im Alter zwischen 25 und 65 haben nach OECD-Daten einen Hochschulabschluss – weit mehr als im Durchschnitt der OECD-Staaten von 35 Prozent. Dazu kommt eine der höchsten Geburtenraten der Welt (3,1 Kinder pro Frau, Deutschland: 1,5) und ein gut ausgebautes Förderungssystem für begabte Schüler.
Und es gibt einen Hintergrund, den Saul Singer so beschreibt: „Wir sind ein kleines Land. Wir haben keine natürlichen Ressourcen. Und wir leben in einer uns feindlich gesinnten Nachbarschaft. Damit mussten wir immer klarkommen. Wir mussten die Herausforderungen bewältigen. Mit Innovationen. Lange Jahre ging es dabei vor allem um unsere Verteidigung. Erst später wurden wir zur Start-up-Nation. Es ist ganz einfach: Wir mussten erfinderisch sein, um zu überleben."
Dabei gerät leicht in Vergessenheit, welch rasante Entwicklung dieser Staat hinter sich hat. Jeder erinnert sich an die berühmten Jaffa-Orangen. In den 50er- und 60er-Jahren machte die Landwirtschaft noch 60 Prozent aller Exporte aus, heute liegt der Anteil bei knapp drei Prozent. Das bedeutet nicht, dass der Export weniger geworden ist, im Gegenteil: Israel baut heute sogar Bananen, Wein, Erdnüsse und Granatäpfel an. Neben der Hightech-Branche sind die wichtigsten Industriezweige die Diamantenveredelung, die konventionelle Sicherheits- und Rüstungstechnik und der Tourismus. Gisela Dachs, langjährige Israel-Korrespondentin der „Zeit", schreibt: „In gewisser Weise hat Israels Wirtschaftsentwicklung das 20. Jahrhunderts einfach übersprungen." Dass die klassischen Technologien wie Schwerindustrie und Automobilbau fehlen, sei eher ein Vorteil – die Hochtechnologiebranche sei wesentlich flexibler und könne sich schneller an die Anforderungen des Weltmarktes anpassen.
Sozialistische Wurzeln
Israel galt einst als eine Art sozialistisches Projekt. Viel davon scheint heute nicht mehr übrig zu sein. Nur noch drei Prozent der Bevölkerung lebt in einem Kibbuz. Die meisten der noch bestehenden Kibbuzim gehen in eine privatwirtschaftliche Richtung. Der früher eher dirigistische Staat hat sich aus der Wirtschaft zurückgezogen zugunsten einer freien, marktorientierten Wirtschaft. Das hat seinen Preis. Zwar liegt die Arbeitslosenquote bei nur 4,3 Prozent. Doch 22 Prozent der Bevölkerung gelten als arm (unter 750 Euro im Monat), darunter jeweils mehr als 50 Prozent der ultraorthodoxen Juden und der arabischen Bevölkerung. Im Land leben 200.000 offizielle Arbeitsmigranten und rund 100.000 illegale Einwanderer.
Das Durchschnittseinkommen liegt bei 9.800 Schekel (ca. 2.000 Euro). Dabei sind die Preise genauso hoch wie in Deutschland, manchmal sogar noch höher. Ein junger Israeli, der in Berlin lebt, postete 2014 den deutschen Preis für einen Joghurt über Facebook: 19 Cent. Das löste in Israel, wo derselbe Joghurt ein Vielfaches kostet, eine Protestwelle aus. Schon einmal, im Jahr 2011, haben die hohen Mieten und Lebensmittelpreise zu Massenprotesten geführt.
Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander: Der Anteil der Mittelschicht an der Bevölkerung liegt in Israel bei nur noch 39 Prozent, im Vergleich zum OECD-Durchschnitt von 53 Prozent. Viele israelische Familien mit Kindern tun sich trotz doppeltem Einkommen schwer, über die Runden zu kommen. Die Mieten in Tel Aviv gelten als schier unbezahlbar. So ziehen viele in billige Wohnungen in Siedlerstädte und pendeln zu ihrer Arbeit.
Das Problem einer Spaltung in Arm und Reich, Privilegierte und Benachteiligte stellt sich in Israel schärfer als anderswo dar. Der ehemalige linke Bildungsminister Jossi Sarid schrieb dazu: „Unsere Gesellschaft muss die solidarischste der Welt sein, denn die Anforderungen an unsere Bürger sind höher als anderswo auf der Welt. Die israelischen Männer etwa müssen fast drei Jahre Militärdienst und danach Reservedienst leisten. In Italien kann man ohne außergewöhnliche Solidarität zusammenleben, auch in Deutschland. Hier nicht."