Die Mobilität der Zukunft ist smart und vielfältig. Dennoch gilt Deutschland als abgehängt im internationalen Vergleich. Das muss nicht so bleiben, glauben Experten.
Neun Milliarden Menschen leben 2050 auf der Erde, rund 70 Prozent von ihnen in Städten. 80 Prozent bestellen Güter in anderen Ländern, so die Prognosen von Demografen. Diese Situation produziert eine Menge Verkehr. Um den drohenden Verkehrskollaps sowie die damit verbundenen Umweltbelastungen zu vermeiden, ist es allerhöchste Zeit, gegenzusteuern. E-Mobility, alternative Antriebe, autonomes Fahren, Carsharing, bessere Vernetzung aller Transportmittel, selbst visionäre Ideen wie Lufttaxis machen derzeit die Runde. Fachleute aus Forschung, Wirtschaft und Politik überschlagen sich förmlich mit innovativen Konzepten, die Mobilität der Zukunft sprichwörtlich auf die Straße oder wahlweise in die Luft zu bringen. Schließlich ist die individuelle Mobilität ein hohes Gut im 21. Jahrhundert und die Automobilindustrie eine Schlüsselbranche in Deutschland, die für Wirtschaftswachstum und Wohlstand steht. Das gilt vor allem auch für das Saarland als wichtiger Standort der Autoindustrie in Deutschland. Immerhin gibt es im Saarland 260 Betriebe mit rund 44.000 Beschäftigten rund um die Automobilbranche.
Die Zukunft auf die Straße bringen
Doch die deutsche Autoindustrie kämpft derzeit an vielen Fronten, um das ramponierte Image beispielsweise durch den Dieselskandal wieder aufzupolieren. Kritiker werfen ihr außerdem vor, die E-Mobility im internationalen Vergleich verschlafen zu haben. Zu lange habe man nur auf die Verbrennungstechnologie gesetzt und zu wenig in alternative Antriebstechniken investiert. Die USA mit Tesla und die Asiaten mit Toyota und Hyundai seien hier klar besser aufgestellt und wesentlich schneller. Die anfangs zögerliche Haltung der Deutschen müsse langfristig aber keinen Wettbewerbsnachteil bedeuten, macht Prof. Dr. Michael Backes vom Cispa Helmholtz-Zentrum für Cybersicherheit den Autobauern hierzulande Mut. Gerade in puncto autonomes Fahren und E-Mobility setzen die Verbraucher laut Umfragen lieber auf sichere, praxiserprobte und ausgereifte Technik. Man müsse nicht immer „first mover" sein, also der Erste am Markt. Niemand wolle ein Auto, das zwar autonom und elektrisch fahre, aber wegen Schäden alle paar Wochen in die Werkstatt müsse. Deutsche können sichere und gute Autos bauen. Das gilt unter den Experten als gesetzt: Die Produktionsexzellenz sei vor allem im Autoland Saarland vorhanden, so Dr. Pascal Strobel von der Saarland Innovation- und Standortagentur Saaris. Entscheidend werde es nun sein, die Automobilindustrie mit der ebenfalls vorhandenen Forschungsexzellenz im Saarland optimal zu kombinieren.
Backes und Strobel waren Gastredner Ende Mai in Saarbrücken auf der Veranstaltung „Mobilität der Zukunft – was wird uns in den kommenden Jahren bewegen?" von IHK Saarland und dem Verein Autoregion Saar. Zudem gab Dr. Lars Heidenreich, Leiter des Bereichs „Smart Mobility" im VW-Konzern, einen Überblick über smarte Mobilität und deren Zukunftschancen. Michael Jung, Geschäftsführer des Nanotech-Unternehmens Nanogate, zeigte, was in puncto innovative Oberflächensysteme und Design in der Automobilindustrie inzwischen möglich ist.
Unbestritten bleibt: Das notwendige Know-how ist in Deutschland vorhanden. Die ersten E-Autos, wenn auch nur wenige, fahren auf deutschen Straßen. Die Ladeinfrastruktur wächst, wenn auch langsam, und erste Modellversuche für autonomes Fahren gibt es bereits. Doch massentauglich ist das alles bisher nicht. Die mobile Zukunft der Deutschen dürfte nach Ansicht von Dr. Lars Heidenreich auch eine Mischung sein aus autonomem Fahren, Carsharing und herkömmlichen Autos mit Verbrennungsmotoren. Hinzu kommt eine sogenannte Mikromobilität in den Städten durch Fahrräder, E-Bikes und ÖPNV. Damit das autonome Fahren bei den Menschen hoffähig werde, müsse die Mobilität so einfach wie möglich gemacht werden, so Heidenreich. Das Auto müsse quasi per Knopfdruck vorfahren und den Fahrgast schnell und einfach an den gewünschten Ort bringen. Daran arbeite der VW-Konzern und habe bereits erste Prototypen realisiert. Für Heidenreich gilt es als gesetzt, dass „die mobile Zukunft elektrisch, das autonome Fahren stark im Kommen" sei und die Mobilität sich zu einem riesigen Servicemarkt entwickle. Gerade letzteres sei eine Riesenchance für die deutsche Wirtschaft, angefangen bei IT-Unternehmen über die Autobauer und Flottenbetreiber bis hin zu Content-Anbietern: Für Menschen, die keinen Wert mehr auf ein eigenes Auto legen, wird das Fahrzeug zu einem einfachen Transportmittel per Knopfdruck; für Menschen mit Besitzanspruch wird das Auto zu einem Teil der Wohnung wie der Fernseher, Arbeitsplatz oder Spielbereich. Die Ansprüche an die Mobilität der Zukunft sind höchst unterschiedlich. Ziel wird es dennoch sein, die Mobilität zu demokratisieren, sprich Mobilität für viele Menschen zu entwickeln.
Hohe Akzeptanzprobleme
Umfragen und Studien der deutschen Autobauer zeigen zwar, dass 30 bis 40 Prozent der Deutschen Mobilität „on demand" wünschen, vor allem wenn die Strecken kurz sind wie in den Städten. Aber eine Vielzahl bleibt skeptisch gegenüber Sicherheitsaspekten beim autonomen Fahren, selbst wenn die Vorteile in der Theorie überwiegen. Kein Überfahren mehr einer roten Ampel, keine Geschwindigkeitsüberschreitung, keine Strafe mehr für Alkohol oder mit Handy am Steuer, keine Unfälle durch Übermüdung. Trotzdem: Die Akzeptanzprobleme sind derzeit weiterhin hoch. Wer vertraut schon bedingungslos der so hoch gelobten innovativen Technik? Was macht man bei Cyberangriffen auf die Software und Steuerung im Auto? Was passiert, wenn das selbstfahrende Auto eine plötzlich auftretende Situation wie ein schwer zu erkennendes Hindernis falsch interpretiert und das bei Tempo 130 km? Fragen, mit denen sich Forscher zum Beispiel am Cispa beschäftigen, um sichere autonome Systeme zu entwickeln. Dafür brauche man einen langen Atem, betonte Prof. Backes. Aber autonome Systeme gebe es bereits in vielen Bereichen und seien aus dem richtigen Leben nicht mehr wegzudenken. „Warum sollten wir das beim autonomen Fahren nicht hinbekommen? Wir haben im Saarland beste Voraussetzungen und können das Land zu einer Keimzelle mit großen Wachstumschancen auf diesem Gebiet entwickeln", so Backes optimistisch.
Wie so etwas funktionieren kann, zeigt Nanogate. Das aus dem Saarbrücker Universitäts-Institut für Neue Materialien hervorgegangene Start-up-Unternehmen ist zu einem weltweiten Player für innovative Oberflächensysteme geworden – mit heute rund 1.500 Mitarbeitern und einem Umsatz von 220 Millionen Euro. Tendenz steigend, denn die Anforderungen an neue Bedienkonzepte und an das Design speziell im Automobilbereich nehmen weiter zu. Einfache Bedienbarkeit, hohe Funktionalität und die Ästhetik beeinflussen maßgeblich die Kaufentscheidung. Das habe das iPhone schlagkräftig unter Beweis gestellt, so Michael Jung.
Noch stecken autonomes Fahren und E-Mobility in Deutschland in den Kinderschuhen, aber die technologische Entwicklung verläuft weltweit rasant schnell. Was vor zehn Jahren als utopisch galt, ist heute längst Realität. Das zeigt allein die Entwicklung des Internets zu einem Massenphänomen. Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und smarte Services verändern die Welt. Technologien und Know-how für die Mobilität der Zukunft sind vorhanden. Man muss sie nur zusammen auf die Straße bringen.