Der Brexit hatte die Hoffnung auf europäische Trotzreaktionen genährt. Eine Kehrtwende in der europäischen Politik ist aber nicht in Sicht, sagt Heinz Bierbaum, Führungsmitglied der Europäischen Linken. Er fordert eine Reflexion der Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Herr Bierbaum, können Sie uns erklären, wo wir derzeit überhaupt mit dem Brexit-Prozess stehen?
Die Verhandlungen sind offen. Es geht immer noch um die entscheidende Frage: Harter Brexit oder weicher Brexit? Eine große Frage ist auch die Irlandfrage. Wenn man einen harten Brexit machen würde, ginge die Grenze durch das Vereinigte Königreich, und das wäre sehr, sehr problematisch. Zurzeit ist nicht entschieden, in welche Richtung es geht. Durch die letzten Lokalwahlen (Anm. d. Red.: in großen Teilen des Vereinigten Königreichs) ist die Entscheidung für den Brexit noch einmal ein Stück weit bestätigt worden. Es ist ja keineswegs so, dass wir eine große Anti-Brexit-Stimmung in Großbritannien selber hätten. Der relative Wahlerfolg der Tories beruht weitgehend darauf, dass sie getragen worden sind von denen, die für den Brexit sind. Insofern haben wir nach wie vor diese Stimmungslage. Dagegen versuchen Corbyn und die Labour Party eine Lösung, die auch bei einem Austritt in Richtung Integration mit Europa gehen soll, auch wirtschaftlich. Wie das gehen soll, ist dabei ziemlich offen. Gegenwärtig ist schwierig zu sagen, wie das ausgeht.
Der Brexit hat zwar bislang noch keinen Nachahmer gefunden, aber die national-egoistischen Tendenzen gewinnen weiter an Boden, wie es scheint. Woran liegt das?
Ich glaube, dass man die Brexit-Frage in den Gesamtzusammenhang der europäischen Politik stellen muss. Brexit ist auch ein Ausdruck einer großen Unzufriedenheit mit der Politik der Europäischen Union. Wir sehen das ja aktuell in Italien, wo von denen, die die Wahl gewonnen haben, zwar nicht der Austritt gefordert, aber doch eine sehr kritische Haltung geäußert worden ist.
Es gab die Hoffnung, wenn erst die negativen Folgen des Brexits klar würden, würden die Briten wieder zur Vernunft kommen. Warum ist es offensichtlich nicht so gekommen?
Das war eine völlige Unterschätzung der Problematik der europäischen Politik. Es ist einfach so, dass die Stimmung insgesamt in Europa ziemlich gekippt ist und große Skepsis herrscht. Und das hat mit der neoliberalen Austeritätspolitik und den erheblichen negativen sozialen Konsequenzen zu tun. Wir haben einen Anstieg prekärer Beschäftigungsverhältnisse, was sozial verheerend ist, wie insgesamt die auf nur auf Haushaltskonsolidierung ausgerichtete Politik ökonomisch kontraproduktiv ist. Es ist ein großer Fehler, dass daran keine Korrektur erfolgt.
Derzeit wird in Brüssel der Haushalt für die nächste Periode diskutiert, der ersten nach dem Brexit. Welche Signale lesen Sie aus den bislang bekannten Eckpunkten?
Man versucht doch im Wesentlichen, weiterzumachen wie bisher. Ansonsten halte ich es für sehr bedenklich, dass man zum ersten Mal so etwas wie einen Militärhaushalt in der Europäischen Union einrichten will. Was man jenseits der Haushaltsüberlegungen dringend machen müsste, wäre, sich über die Grundlagen der Politik selber klar zu werden. Wir brauchen eine Initiative für öffentliche Investitionen: Ankurbelung der Industrie, dort, wo es notwendig ist, in Verbindung mit einem sozial-ökologischen Umbau der Industrie. Dazu müsste sich auch die Rolle der Europäischen Zentralbank (EZB) verändern in Richtung mehr ökonomischer Verantwortung, um solche Programme zu finanzieren. Genauso wichtig ist eine Harmonisierung der Steuerpolitik. Steuerdumping ist schädlich und Steueroasen müssen ausgetrocknet werden.
Kurz nach dem Brexit-Votum hatten viele in Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten auf einen „heilsamen Schock" gesetzt. Was ist daraus geworden?
Der ist nicht eingetreten und wird nicht eintreten, weil nicht begriffen wird, dass die europäische Politik im wirtschaftlichen und sozialen Bereich absolut unzulänglich ist. Der große Aufschwung der Rechten in ganz Europa hängt nicht nur, aber auch mit dieser Politik zusammen.
Dagegen steht das klare Europa-Bekenntnis von Macron und dessen Wahlsieg.
Dieses Bekenntnis von Macron ist breit aufgenommen worden, besonders von der deutschen Sozialdemokratie. Aber man hat sich nicht klargemacht, auf welcher Grundlage diese Europapolitik Macrons stattfinden soll. Der entscheidende Fehler von Macron ist die neoliberale Ausrichtung. Wenn ich mir die Arbeitsmarktreformen ansehe, steht dahinter eine neoliberale Haltung, die an die Agenda 2010 anschließt. Das ignoriert, dass wir eine grundlegende Wende in der Politik brauchen.
Wie soll die aussehen?
Zum Beispiel, dass wir die Orientierung an der deutschen Schuldenbremse aufgeben müssen, damit die notwendigen öffentlichen Investitionen getätigt werden können, dass wir eine andere Steuer- und Verteilungspolitik brauchen, und, was ganz wichtig ist, dass auf europäischer Ebene eine stärkere Kontrolle der Finanzmärkte erfolgt mit einem Verbot der Finanzspekulation und einer Transaktionssteuer.
Wie sortiert sich das europäische Machtgefüge ohne London?
Der Gewinner des Euro ist ja Deutschland, das eine führende Stellung hat, diese aber nicht nutzt für eine Veränderung der Politik. Das wäre meiner Meinung nach Aufgabe der Sozialdemokraten in der Großen Koalition, die Problematik anzugehen und nicht nur nette Bekenntnisse abzugeben. Ansonsten haben wir starke Tendenzen zu einer auf Ausgrenzung beruhenden nationalistischen Politik, und wir haben autoritäre Systeme wie in Polen und Ungarn. Das bedeutet, dass die Europäische Union in keinem guten Zustand ist.
Das wollte Macron ja mit seinem Vorschlag ändern. Im Übrigen gibt es ja auch einen Vorschlag von Kommissionspräsident Juncker. Deutet das nicht auf Bewegung hin?
Es gibt das Eingeständnis, dass man was machen muss, auch sozial. Dazu gehört der Macron-Vorschlag mit mehr Investitionen. Es gibt auch leichte Fortschritte mit den Pfeilern sozialer Rechte. aber das reicht alles nicht, und das ist das Problem. Deshalb gibt es bei den Rechten und den Linken Bestrebungen, stärker die Souveränität der Nationalstaaten zu betonen, wenn das nicht funktioniert.
Neben dem Brexit gibt es zusätzlichen Druck von außen: Trump, Putin, Erdogan, die Entwicklung im Nahen Osten. Reicht das alles nicht für eine Art „Hallo-Wach-Erlebnis"?
Eigentlich müsste es dazu führen, dass Europa stärker und selbstbewusster wird. Spätestens die Aufkündigung des Iran-Abkommens durch Trump müsste ein Weckruf sein, dass Europa sich aus der babylonischen Gefangenschaft der USA begibt und eine eigenständige Politik macht, nicht als Großmachtpolitik, aber als eigenständige Alternative. Aber dazu müsste sie eben die Grundlagen der eigenen Politik reflektieren. Letztlich, und das zeigt auch der Brexit, ist die bisherige neoliberale Austeritätspolitik gescheitert. Deshalb muss man die Probleme, die Folge dieser Politik sind, angehen, beispielsweise die Jugendarbeitslosigkeit, die Prekarisierung der Arbeit, die öffentliche Infrastruktur. Das könnten Grundlagen europäischer Politik sein, aber davon sind wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch sehr weit entfernt.
Es gab den Vorschlag für einen neuen Anlauf zu einer europäischen Verfassung. Warum ist daraus nichts geworden?
Man hat mit so etwas schon vor zehn Jahren negative Erfahrungen gemacht. Man kann eine verfassungsgebende Versammlung nicht machen ohne eine Reflektion der ökonomischen Grundlagen. Man kann nicht immer mit dem Überbau anfangen. Ich halte die wirtschafts- und sozialpolitische Ausrichtung für das zentrale Problem. Was man allerdings machen muss, ist, die existierenden Verträge zu überprüfen. Es gibt Stimmen, die sagen, dass auf der Basis der Maastricht-Verträge ein anderes Europa gar nicht möglich ist, weil dort die Grundlage für die neoliberale Ausrichtung europäischer Politik gelegt ist. Dies hat jedoch erhebliche makroökonomische Ungleichgewichte zur Folge, die eine schwere Hypothek der europäischen Integration sind. Deshalb brauchen wir einen umfassenden Diskussionsprozess über die politische Ausrichtung Europas.