„Es gibt immer einen, der geht und einen, der verlassen wird": Für Alexander Freiherr Knigge ist der Brexit keine rein innerbritische Angelegenheit. Der Mitbegründer von „Pulse of Europe" möchte mit Debatten in kleinem Kreis den Europa-Gedanken wieder beleben.
Herr Knigge, entstanden ist Pulse of Europe ja als Reaktion auf den Brexit-Schock: Da schätzt jemand den Europa-Gedanken nicht wert, tritt aus – lasst uns etwas tun! Aktuell wird es wieder stiller – wie soll es weitergehen?
Ja, wir hatten einen tollen Start, europaweit sind Leute gemeinsam für Europa auf die Straße gegangen! Nach dem großen Hype im letzten Frühsommer vor den Wahlen in den Niederlanden und Frankreich gingen die Teilnehmerzahlen dann zurück. Wir halten immer noch regelmäßig und auch aus speziellen Anlässen Demonstrationen ab. Aber wir haben überlegt, wie wir diese tolle Sache, die im Frühling passiert war, zusätzlich zu etwas Dauerhaftem, Nachhaltigem machen können. Und wir haben Pläne…
Es haben ja viele gesagt: Ihr müsst spezifischere europapolitische Forderungen stellen! Wir haben das aber instinktiv von Anfang an nicht getan und uns auch entschieden, es zunächst so zu belassen. Wir kümmern uns eher um einen emotionalen Zugang zu Europa, an dem alle teilhaben können. Wir stehen eher für eine Haltung als für ein ganz spezielles Programm und möchten einen Kreis für Konstruktive und positiv Eingestellte bieten.
Aber Sie haben ja auch Grundsätze von „Europa darf nicht scheitern" bis zu „Alle sollen mitmachen"…
Unsere zehn Grundsätze sind ein gemeinsamer Nenner, auf dessen Grundlage wir Europa weiterentwickeln wollen. Die Gesellschaft muss erst mal tatsächlich europäisch denken. Erst dann kann man über einzelne Projekte sprechen und verhandeln. Manche Ziele sind vielleicht auch zu technisch, um eine breite Bewegung tragen zu können.
Was nennen Sie technisch?
Dinge, die schwer vermittelbar oder kompliziert sind, zum Beispiel Veränderungen einzelner Stellschrauben bei der Machtverteilung zwischen den Institutionen. Manche konkrete Ziele sind zauberhaft, aber vielleicht zu klein, um dauerhaft eine breite Bewegung zu tragen, oder zu groß, um für viele anschlussfähig zu sein. Etwa eine Forderung nach den „Vereinigten Staaten von Europa" ginge vielleicht manchem noch zu weit, der trotzdem glühender Europäer ist.
Nach dem Brexit-Referendum hieß es: Wir müssen die EU reformieren, sie greifbarer, erlebbarer machen! Ist das passiert?
Wenn man näher hinguckt, ist man erstaunt, was für ernsthafte Bemühungen der Institutionen es gibt, sich verständlich zu machen, zugänglich zu sein. Bevor ich mich damit näher befasst habe, hatte ich auch so meine Vorurteile gegen diese Riesenverwaltung, den Apparat.
Hat denn die deutsche Politik nicht überhaupt recht wenig Interesse an der EU?
Da muss ich Ihnen zustimmen, das ist dramatisch. Ich glaube, es ist noch nicht bei allen angekommen, was für eine historische Chance wir gerade haben! Die Debatte wirkt verzagt. Dabei habe ich keinen Zweifel daran, dass unsere Bundesregierung zutiefst proeuropäisch ist. Aber dieses „unser Geld bleibt hier!", das immer wieder die Debatten beherrscht, ist doch peinlich und lässt so vieles außer Acht. Dass man, wenn man etwas gemeinsam gestalten will, auch eine gemeinsame Kasse braucht, ist doch nur logisch.
Wie schätzen Sie die Stimmung in Großbritannien nach der Brexit-Entscheidung ein?
Ich war kürzlich in London anlässlich einer Diskussion zum Thema „European Citizenship", Europa-Bürgerschaft. Das fühlte sich dort ganz merkwürdig an: Die Leute wissen gar nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Kein Wunder! Mit einem nicht vorgesehenen Referendum, dessen Konsequenz bei der Abstimmungsfrage auch gar nicht klar war, wurde eine unumkehrbare Entscheidung getroffen, die auf Lügen von beiden Seiten basiert. Inzwischen sind auch die „Remainer", die gegen den Brexit waren, wütend auf die EU: Die macht den Briten den Austritt schwer, ist zu streng. Andererseits heißt es immer mal wieder: Die EU ist ja nicht gleich Europa, wir bleiben Freunde! Ja, alles richtig. Aber als Botschaft hinter dem Brexit steht doch die Aussage: Wir finden eine Union mit euch so schrecklich, wir wollen nicht einmal mehr mit euch über irgendetwas verhandeln. Wir wollen einfach nur weg.
Nun muss man die Entscheidung der Briten doch aber ernstnehmen.
Sie wird ja auch ernstgenommen. Das Brexit-Referendum hat allerdings meine Zweifel an der direkten Demokratie, gerade bei solchen unumkehrbaren Entscheidungen, bestärkt. Diese den gewählten Repräsentanten zu überlassen, das wäre schon ganz vernünftig. Wenn sie nicht gut entscheiden, wähle ich beim nächsten Mal andere. Aber diese Unumkehrbarkeit einer Entscheidung, und dann noch mit einer so knappen Mehrheit – das ist doch absurd!
Natürlich ist es Sache der Briten, über ihre Zugehörigkeit zur EU zu entscheiden. Aber dass wir anderen gar nichts dazu sagen dürfen, finde ich auch nicht gut. Schließlich wird ein Brexit auch auf die verbleibenden Mitgliedsstaaten massive Auswirkungen haben. Die Botschaft, die der Rest von Europa schicken müsste, wäre: „Wir fänden es besser, wenn ihr dabei bleibt! Und Ihr könnt es Euch jederzeit wieder anders überlegen." Stattdessen wird immer wieder behauptet, das sei eine rein innerbritische Sache. Falsch: Beim Verlassen gibt es immer einen, der geht, und einen, der verlassen wird. Das ist nichts Einseitiges.
Wie könnte man den Europa-Gedanken fördern, um eine solche Entwicklung wie in Großbritannien zu verhindern?
Als Bürgerinitiative ist Pulse of Europe vor allem angetreten, um emotionale und positive Zeichen für Europa zu setzen. Bei unseren Demonstrationen haben die Teilnehmer am „offenen Mikrofon" ihre Geschichten, Ideen, Wünsche zu Europa erzählt. Und dieses Reden und Zuhören macht den besonderen Reiz aus.
Es zeigt, dass es ein großes Bedürfnis gibt, einen konstruktiven Dialog zur Einheit Europas zu führen. Das wollen wir nun mit einem eigenen Modell der Bürgerbeteiligung fortsetzen und vertiefen. Wir nennen es „Europäische Hausparlamente".
Was sind denn „Hausparlamente"?
Ich lade mir fünf bis acht Freunde oder Kollegen ein oder treffe mich mit ihnen im Café oder Biergarten. Möglichst Leute, bei denen ich das Gefühl habe, dass sie anderer Meinung sind als ich. Von Pulse of Europe gibt’s dazu ein Toolkit mit einer Frage und eine Anleitung zur Debatte, also Tipps, wie so etwas stattfinden kann. Und vor allem mit fundierten Informationen zum Thema. Dann wird die Frage debattiert und anschließend abgestimmt. Die Abstimmungsergebnisse sammeln wir. Und das Reizvolle ist: Wir von Pulse of Europe schließen vorher eine Art Pakt mit einem politischen Entscheider, für den die jeweilige Frage gerade ansteht. Der ist natürlich weiterhin frei in seiner Entscheidung. Aber er verpflichtet sich, die Ergebnisse der Hausparlamente zur Kenntnis zu nehmen. Und vor allem: Er gibt Rückmeldung und begründet seine Entscheidung. So, dass wirklich ein Dialog stattfindet, ein Austausch.
Um welche Fragen soll es bei den Hausparlamenten gehen?
Um heiße Eisen der Europapolitik! Es soll wirklich um die Themen gehen, die in der Luft liegen, die zur Entscheidung anstehen und die auch kontrovers sind, wie zum Beispiel „Finanzierung der Gemeinschaft" oder „EU auf der Weltbühne – Außenpolitik". Oder Migration und Flüchtlinge – Themen, die spannend sind und bei denen möglichst viele gerne mitreden wollen, also nicht irgendwelche speziellen Dieselabgasrichtlinien.
Was ich so reizvoll finde: Ich setze mich anderen Meinungen zu einem Thema aus, lerne etwas. Und ich weiß, dass ich gehört werde und auch eine Antwort kriege.
Und wie wollen Sie die Leute dazu kriegen?
Wir sind optimistisch – bei den Demos hat sich das ja auch wie ein Lauffeuer verbreitet. Was wir anbieten können: Es macht Spaß, total! Fast wie ein Gesellschaftsspiel, aber mit einer ganz anderen Relevanz. Wir überlegen auch, die Hausparlamente mit einer App zu verbinden und vielleicht mit einer interaktiven Karte, auf der man dann europaweit sieht, wer wo mitgemacht und wer wie abgestimmt hat. Oder die Leute können miteinander in Kontakt treten, daraus kann unglaublich viel werden. Hierfür brauchen wir allerdings noch Spender und Unterstützer!
Klingt spannend – wann soll’s denn losgehen?
Am 10. Juni gab es ja einen großen Festakt in der Paulskirche in Frankfurt, der Wiege des Parlamentarismus in Deutschland. Das war natürlich großartig, genau da unser neues Modul für die Ergänzung der parlamentarischen Demokratie vorzustellen. Noch im Sommer werden wir die erste „Hausparlamente-Welle" machen, drei oder vier sind geplant. Wir freuen uns auf den Startschuss!
Weitere Informationen unter: www.pulseofeurope.eu/de