Berlin ist multikulti und bunt – aber nicht nur: Matthias Müller erlebt bei der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus (MBR) auch andere Seiten der Hauptstadt. „Das Gewaltpotenzial ist hoch", sagt er. Und es ist vielfältig – von der Anschlagsserie in Neukölln bis zur Diskriminierung im Fußball.
Herr Müller, hat Berlin ein Nazi-Problem?
In Berlin gibt es wie in vielen Städten und Gegenden in diesem Land ein Problem mit den Ideologien der Ungleichwertigkeit. Das heißt: mit Rassismus und Antisemitismus, mit einer Feindschaft gegenüber LSBTIQ-Personen (Anm. d. Red.: Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans*-, Inter*-, Queer-Personen).
Es gibt weiterhin rechtsextreme Parteien in Berlin wie die NPD oder der Dritte Weg. Da ist vor allem die NPD zu nennen, die versucht, Akzente zu setzen, wahrgenommen zu werden. Der Dritte Weg tritt kaum in Erscheinung, die Partei Die Rechte spielte in Berlin zuletzt keine Rolle mehr. Das sind Parteien, die in ihrer Programmatik, in ihrer Argumentation, in ihren Strategien Bezüge zum Nationalsozialismus haben.
Dann gibt es ein Spektrum von Gruppierungen und Parteien, in der es eine Offenheit gibt für extrem rechte Ideologien. Das lässt sich unter dem Begriff Rechtspopulismus zusammenfassen, wo auch Teile der AfD dazugehören.
Hat die AfD die Tür nach rechts aufgestoßen?
Es ist ein Wechselspiel. Die Einstellungen und die Personen gab es ja schon in der Vergangenheit. Die Forschung hat uns ja schon immer gesagt, dass es einen Teil der Bevölkerung gibt, bundesweit sind das zehn bis 15 Prozent, der extrem rechte Einstellungen hat. Das hatte sich nie in Wahlen niedergeschlagen. Es gab nie eine Partei aus dem Bereich der extremen Rechten, die das Wählerpotenzial abgerufen hat.
Jetzt gibt es seit 2013 die AfD, der es gelungen ist, bei Wahlen auch erfolgreich zu sein und in Berlin mit 14 Prozent ins Abgeordnetenhaus einzuziehen. Das ist ein deutlicher Hinweis, dass es in Berlin auch eine Offenheit gibt für Einstellungen und Meinungen, die Menschen das Recht abspricht, hier zu sein. Man will ihnen die Teilhabe an der Gesellschaft verwehren. Es existiert eine Offenheit für rechte Positionen.
Aber die AfD gilt doch vor allem auch als Sammelpunkt für Protestwähler…
Dass dies alles Protestwähler sind, dieser Ansicht bin ich nicht. Als es in Berlin um die Unterbringung von Flüchtlingen ging, haben sich bürgerliche Kreise an den Protesten gegen die Unterbringung beteiligt und sich gegen die Errichtung von Unterkünften gestellt. Es haben sich gesellschaftliche Bereiche politisiert, die vorher auch schon diese Einstellung hatten, aber nicht so in Erscheinung getreten sind.
Gibt es Stadtteile in Berlin, in denen solche rechtsradikale Tendenzen besonders auffällig sind?
Derzeit haben wir im Bezirk Neukölln eine rechtsextreme Anschlagsserie. Die gibt es jetzt schon seit zwei Jahren. Die Zeit davor war es ruhiger. Seit dem Mai 2016 gab es 16 Brandanschläge gegen Pkw von engagierten Personen und Projekten. Dabei wurde der Tod von Menschen in Kauf genommen. Wir haben dann erfahren, dass eine wichtige rechtsextreme Person das Gefängnis verlassen hat. Hier sehen wir einen Zusammenhang, dass sich durch diese Person die rechte Szene in Neukölln radikalisiert hat. Rechtsmotivierte Angriffe gab und gibt es eher in den Bezirken Marzahn-Hellersdorf, Lichtenberg, Treptow-Köpenick, Mitte und Pankow. Hier sind wir vor allem tätig.
Wie kann es sein, dass die politische Stimmung gerade in Neukölln kippt?
Ich glaube, es erklärt sich, wenn man noch mal weit in die 80er-Jahre zurückschaut. Es gab im Süden von Neukölln neonazistische, rechtsextreme Bewegungen. Es gab dort auch Wahlerfolge der Republikaner. Die stellten auch mal einen Stadtrat. Es gab also damals eine Bereitschaft, rechts von der Mitte zu wählen, und es bildeten sich rechtsextreme Strukturen heraus. Die haben sich damals auch gezeigt im Bereich des Fußballs, deutlich stärker als heute. Zum Beispiel bei der Wannseefront haben sich Rechtsextreme pudelwohl gefühlt.
Republikaner, Wahlen – das hört sich eher nach den Älteren an, oder täuscht das?
In den 2000er-Jahren gab es die rechtsextreme Kameradschaft Berliner Alternative Südost, die später von Innensenator Körting verboten wurde. Hier gingen Rechtsextreme aktiv auf junge Menschen zu und rekrutierten sie für die Szene. Die haben ihnen Erlebnisangebote gemacht, sind zusammen zum Fußball gegangen, haben Aktionen gemacht und sind zu rechtsextremen Aufmärschen gefahren. Es fand eine Politisierung von jungen Leuten im Süden von Neukölln statt. Wir haben es jetzt, 15 Jahre später, zum Teil noch mit diesen Leuten zu tun, die in ihrer Jugend unter diesem rechten Einfluss standen und politisiert wurden.
Apropos Fußball: Wie ist denn die Situation bei Hertha BSC heute?
Es ist weniger problematisch. Es gibt noch die alten Leute von der Wannseefront, aber die sind mittlerweile in die Jahre gekommen. Die Fan-Freundschaft zur rechten Borussenfront vom BVB wird noch gepflegt, aber die Leute sind nicht mehr so aktiv. In der Ostkurve gibt es zurzeit wenig Hinweise auf rechtsextreme Aktivitäten. Es gibt auch viele antifaschistische Personen bei Hertha, die sich auch schon an uns gewandt haben. In der Stadionordnung ist zum Beispiel die bei Rechtsextremen beliebte Kleidungsmarke Thor Steinar nicht zugelassen. Der Verein hat gut reagiert und ist sensibel.
Ist die rechte Szene militanter geworden?
Es ist Teil dieser rechtsextremen Ideologie, dass die Positionen, die da vertreten werden, immer wieder Gewalt produzieren. Diese Ideologie ist per se gewalttätig. Wenn wir jetzt diese Angriffswelle in Neukölln sehen, würde ich Ja sagen. Aber die rassistische Gewalt in Berlin ist für die Personen, die davon betroffen sind, etwas Alltägliches. Meine Beobachtung ist, dass das Gewaltniveau weiterhin hoch ist. Auch Angriffe auf jüdische Menschen oder LSBTIQ-Personen nehme ich verstärkt wahr.
Sie können mit früher vergleichen, sind schon länger mit dem Thema befasst. Wie kam es denn zur Gründung der Mobilen Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus?
Während der rot-grünen Regierung ab 1990 kamen verschiedene Dinge zusammen: So reiste der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse im Sommer durch den Osten des Landes. Er war auch in Wurzen, Sachsen, gewesen, hatte sich mit Initiativen getroffen, die ihm erzählt haben, dass dort Rechtsextreme immer dominanter auftraten und Leute einschüchterten. Das wurde dann medial ein Thema; dann gab es einen Anschlag auf die Synagoge in Düsseldorf. Die Politik hat schließlich den „Aufstand der Anständigen" ausgerufen, es gab Lichterketten und Demonstrationen. Aber es musste mehr passieren in Deutschland und es wurden Bundesprogramme gestartet. Wir sind seit 2001 ein Teil davon.
Haben Sie denn genug Unterstützung für Ihre Arbeit gegen Rechtsextremismus und Populismus?
Den Projekten müsste es mehr gelingen, in gesellschaftliche Bereiche hineinzuwirken, die schwer zu erreichen sind. Wir haben zum Beispiel mal ein Projekt gemacht mit dem Berliner Fußballverband, im Bereich vom Amateurfußball. Wir haben da Weiterbildungen und Veranstaltungen gemacht, für Ehrenamtliche in den Vereinen, für Schiedsrichter und Trainer. Das war spannend, aber auch nicht einfach für uns. Die Menschen wollen ja in erster Linie Fußball spielen und sich nicht mit gesellschaftlichen Fragen beschäftigen. Gegen rassistische oder antisemitische Positionen zu arbeiten, das ist wirklich meist schwergängig. Die Leute berichten, dass sie ganz andere Probleme haben, dass sie zum Beispiel keinen Schiedsrichter oder kein vollständiges Team stellen konnten. Solche Sachen störten die Ehrenamtlichen mehr als die Rechtsextremen. Da braucht es langen Atem und Geduld. Wo Menschen diese Haltung halt nicht haben, etwas zu verändern, da wird es schwierig. Nicht alle sind bereit, sich selbstkritisch zu hinterfragen und gegen Diskriminierungen vorzugehen. Aber wir dürfen da nicht nachlassen. Die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen mir, es wird nicht immer alles automatisch besser. Wir können durchaus wieder in eine autoritäre Gesellschaft zurückfallen.
Eine Gruppe, die ja zunehmend in den Medien auftaucht, sind die Reichsbürger. Sind die in Berlin ein Thema?
Ja, wir beobachten das. Wir haben Anfragen von Familien, die sich an uns gewandt haben, um eine Einschätzung zu ihren Angehörigen zu bekommen. Mit Fragestellungen, wie sie auf die Person einwirken können. Welche Möglichkeiten habe ich, welche Grenzen habe ich? Ein Teil dieser Verschwörungsmythen, die da vertreten werden, finden sich zum Teil auch in rechtspopulistischen Milieus wieder. Es gab einige Hausdurchsuchungen auch in Berlin, wo es um Waffen ging. Die rechtsextreme Szene insgesamt hat Zugang zu Waffen, davon müssen wir ausgehen. Die Neigung, sich auf einen Tag X vorzubereiten, an dem es bürgerkriegsähnliche Zustände gibt, diese Haltung findet sich in verschiedenen rechtsextremen Milieus wieder.
Waffen, bürgerkriegsähnliche Zustände – viele hätten Angst, sich damit zu befassen. Werden Sie oder das Beratungs-Team denn wegen Ihrer Arbeit bedroht?
Ich habe früher in Thüringen gearbeitet. Wenn ich da abends von einem Vortrag zurückgefahren bin, habe ich durchaus bedrohliche Situationen erlebt. Da ist mir ein Auto Stoßstange an Stoßstange zehn Kilometer gefolgt. In Berlin bekommen wir Drohanrufe. Unsere Projektleiterin erhielt Morddrohungen. Wir müssen immer wieder auf uns Acht geben, dass wir gewisse Sicherheitsstandards einhalten. Wir achten sehr darauf, wie wir mit unseren Daten umgehen. Wir schauen uns ja auch Neonaziaufmärsche an, um sie zu analysieren. Da sind wir auch schon mit Namen angesprochen worden. Das Szenario, dass man im öffentlichen Raum diesen Personen begegnet, kann man nie ausschließen. Da kommt man nicht raus, das muss man wissen, wenn man diese Arbeit macht.