Lucien Favre kehrt in die Bundesliga zurück und soll Borussia Dortmund wieder zu alter Stärke führen. Das Fachwissen und die Ausstrahlung dazu hat der Schweizer in jedem Fall. Die Frage ist: Glaubt er selbst zu jedem Zeitpunkt an sich und das Team?
Es war im August 2007. Lucien Favre, damals schon 49 Jahre alt und seit 16 Jahren Trainer, hatte es endlich in die Fußball-Bundesliga geschafft. Hertha BSC hatte dem Schweizer eine Chance gegeben. Im ersten Pflichtspiel mussten die Berliner bei der SpVgg Unterhaching antreten, damals Regionalligist und trainiert von Werner Lorant. Die Hertha gewann 3:0, spielte aber schlecht, und prompt soll Lucien Favre bei Manager Dieter Hoeneß vorstellig geworden sein. So mache das keinen Sinn, soll er sinngemäß gesagt haben, die Mannschaft sei zu schlecht und er erwäge seinen Rücktritt. Nach dem ersten Spiel.
Hoeneß konnte Favre davon abhalten, und danach führte der Schweizer den Hauptstadt-Club so dicht an einen Meistertitel wie seit der einzigen Vize-Meisterschaft 1975 nicht. Neun Spieltage vor dem Saisonende führte die Hertha mit Favre die Tabelle an, zwei Spieltage vor Schluss lag sie einen einzigen Punkt hinter dem Tabellenführer. Der Meistertraum endete auf Platz vier, nach der Saison wurden Leistungsträger verkauft und Favre nach sieben Spielen der neuen Saison entlassen.
„In einer Liga mit Pep Guardiola"
Wenn Hoeneß auf die Zeit mit dem Schweizer zurückblickt, sagt er zwei Sätze, die das Spektrum sehr gut abgrenzen. „Wenn Lucien Favre im Supermarkt wählen müsste zwischen „kaufe ich Wurst oder Käse?" – Er würde verhungern, weil er sich nicht entscheiden könnte", sagt der Bruder von Bayern-Präsident Uli Hoeneß über die Unentschlossenheit des Ex-Nationalspielers. Gleichzeitig sagt er aber auch: „Favre mag abseits des Trainingsplatzes mitunter schwierig gewesen sein. Aber auf dem Platz gehört er zu den Besten, da spielt er für mich in einer Liga mit Pep Guardiola."
Favres Perfektionismus ist seine Stärke und seine Schwäche zugleich. Er kann den Fußball lesen wie kein Zweiter, doch die Unwägbarkeiten des Spiels lassen ihn grübeln und verzweifeln. Ein Zocker, dem das Hin und Her des Spiels den Adrenalin-Kick gibt und der Dinge ausprobiert, um zu schauen, ob sie funktionieren, ist der inzwischen 60-Jährige wahrlich nicht. Er bereitet sein Team mit unglaublicher Akribie auf ein Spiel vor. Die Taktik-Besprechungen nerven seine Profis in vielen Fällen sehr bald. Aber nur so lange, bis sie die Überzeugung erlangt haben, dass alles, was Favre sagt, Hand und Fuß hat. Favre tüftelt alles bis ins letzte Detail aus, er möchte Abläufe perfektionieren, alles soll funktionieren wie ein Uhrwerk. Wenn dann ein Ball verspringt oder der Gegner das Durchdachte mit einer guten Aktion zunichtemacht, hadert Favre. Es war doch alles so gut durchdacht.
In der Schweiz nannte man den Bauernsohn aus einem 200-Einwohner-Dorf im Hinterland von Lausanne deshalb früh „Super-Hirnli". Und auch bei seiner zweiten Station in Deutschland lernte man bei Favre schnell beide Seiten kennen: den Zauberer, das Taktik-Genie. Und den Zauderer, der beim kleinsten Rückschlag an sich und dem großen Ganzen zweifelt. Auch in Gladbach war er erfolgreich. Übernahm die Borussia 2011 zwölf Spieltage vor Schluss mit sieben Punkten Rückstand auf den Relegationsplatz, rettete sie in der Relegation und startete anschließend zur ersten Europacup-Qualifikation seit 16 Jahren durch. Wiederholte den Einzug in die Europa League trotz der Abgänge von Dante oder Marco Reus, verbesserte zwischendurch mit 18 Spielen in Folge ohne Niederlage den Vereinsrekord des legendären Hennes Weisweiler und schaffte 2015 sogar die erste Champions-League-Qualifikation der Vereinsgeschichte.
Das klingt alles nach einer durch und durch erfolgreichen Zeit. So empfanden es auch die Fans und Funktionäre der Gladbacher. Niemand zweifelte im Geringsten an Favre. Außer er selbst. Als die Saison 2015/16 mit fünf Niederlagen begann, reichte er tatsächlich seinen Rücktritt ein. Manager Max Eberl und der Vorstand lehnten ab. Also ging Favre an die Öffentlichkeit. Und war weg. „Wir sind vollkommen vor den Kopf gestoßen", sagte Vize-Präsident Rainer Bonhof.
Auf die Frage, ob Favre schon vorher mal über Rücktritt gesprochen habe, antwortete Eberl: „Es gab Momente in der Vergangenheit, als wir diese Thematik das eine oder andere Mal so besprochen hatten." Vor wenigen Wochen sagte der Gladbach-Manager dann: „Jeder gute Trainer in diesem Bereich ist vielleicht auch mal kompliziert. Aber er wird wieder in der Bundesliga auftauchen. Und der Verein, der ihn holt, kann sich gratulieren, weil er eine Mannschaft deutlich besser macht."
Es wurde die andere Borussia. Nicht mehr ganz überraschend, nachdem die Dortmunder Favre schon im vergangenen Sommer holen wollten. Damals erteilte Nizza keine Freigabe, nun hatten die Franzosen wegen einer Ausstiegsklausel keine Handhabe mehr gegen einen Wechsel. Auch Leverkusen hatte im vergangenen Jahr Interesse an Favre gezeigt. Und auch beim FC Bayern war sein Name mehrfach durch die Gerüchteküche gegeistert. Vor allem Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge galt als Fan von Favre. Die beiden spielten einst zusammen bei Servette Genf und waren sogar Zimmergenossen. „Schon bei Servette habe ich gemerkt, dass er Fußball lebt. Und ich habe ihn nie aus den Augen verloren", sagte Rummenigge später.
Dadurch, dass sie sich nun mehr als ein Jahr mit Favre beschäftigt haben, wissen die Borussen genau, was sie bekommen. Seine Stärken, aber auch seine Macken, sind schließlich hinlänglich bekannt. Was den BVB freilich auch nicht davon abhielt, einst den als kompliziertes Genie gehandelten Thomas Tuchel zu verpflichten und sich am Ende von ihm zu trennen, weil er angeblich zu kompliziert war. Dann den Offensiv-Fan Peter Bosz, um ihn am Ende zu entlassen, weil er zu offensiv spielte. Und schließlich Spielerfreund Peter Stöger, um nicht mit ihm weiterzumachen, weil er die Truppe nicht hart genug anpackte.
Doch der Meister von 2011 wechselt nicht nur den Trainer. In Dortmund hat man erkannt, dass man grundlegende Dinge ändern muss. Man hat Querdenker Matthias Sammer als externen Berater ins Boot geholt, dazu den früheren Meister-Kapitän Sebastian Kehl als Leiter der Lizenzspielerabteilung. Mit ihnen, Club-Chef Hans-Joachim Watzke und Manager Michael Zorc wird Favre sich künftig austauschen dürfen, austauschen müssen.
„Wieder ein echter Konkurrent"
In Dortmund trifft Favre auch wieder auf Marco Reus. Diesen hatte er bei der Hertha einst noch abgelehnt und bei Gladbach schließlich zum Superstar geformt, sodass Dortmund den in der Jugend Aussortierten für 17 Millionen zurückkaufte. Nach dem Rücktritt von Marcel Schmelzer wird Reus ziemlich sicher auch Kapitän des BVB und somit verlängerter Arm Favres auf dem Spielfeld. Zudem will die Vereinsführung vor allem auch Führungsspieler verpflichten. Gegen einen eigenen Kopf bei seinen Spielern hat Favre auch nichts, in Nizza bekam er sogar Mario Balotelli in die Spur. Für Favre ist Dortmund auch eine Riesenchance, denn nachdem er mit der Hertha und Gladbach sensationell kurz oben anklopfte und auch Nizza gleich zur besten Platzierung seit 40 Jahren führte, hat er nun wohl erstmals die Voraussetzungen, um um Titel mitzuspielen.
Und das wird er nach Ansicht vieler Experten sehr bald tun. „Es wurde höchste Zeit, dass er jetzt einen ganz großen Club trainiert", sagt Ottmar Hitzfeld, der mit Dortmund 1997 die Champions League gewann und in Favres Heimat als Grenzländer und ehemaliger Nationaltrainer verwurzelt ist. „Ich erwarte und bin mir sicher, dass der BVB mit Favre wieder direkter Konkurrent der Bayern wird. Daran habe ich keinen Zweifel." Und auch der langjährige BVB-Publikumsliebling Dede glaubt: „Lucien Favre ist sicher die richtige Wahl. Ich bin sicher, dass die Borussia in der kommenden Saison schon ein komplett anderes Gesicht zeigen wird. Und ich glaube auch, dass sie sehr bald wieder ein echter Konkurrent für den FC Bayern sein kann." Spötter schließen derweil eher Wetten ab, wann Favre zum ersten Mal an Rücktritt denken wird. Zumal der Name Julian Nagelsmann, der Hoffenheim 2019 dank einer Ausstiegsklausel verlassen kann, in schweren Zeiten schnell wieder aufkommen kann.