Kaum einer möchte zugeben, verletzlich zu sein. Das Attribut passt auf den ersten Blick nicht in die Anforderungen einer Leistungsgesellschaft. Jüngere Forschung aber zeigt: Sie ist der Schlüssel zu Freude, Liebe und Vertrauen.
Brené Brown (52) hatte wirklich genug von diesem Gefühl – Verletzlichkeit. Als junge, ambitionierte Sozialwissenschaftlerin versuchte sie, sich ihr zu nähern. Der Plan: das Konstrukt der Verletzlichkeit so genau zu erforschen und zu zerlegen, dass sie es in ihrem eigenen Leben fortan austricksen könne. Ein Jahr gab sie sich dafür Zeit. Es wurden sechs Jahre mit unzähligen Interviews, Recherchematerial und Daten.
Brown fiel auf, dass sich ihre Probanden in zwei Gruppen einteilen ließen. Menschen, die liebten, sich geliebt und zugehörig fühlten, und Menschen, die damit Schwierigkeiten hatten, sich nie als genug empfanden. Zu ihrer Überraschung gab es eine einzige Variable, die beide Gruppen unterschied: das Empfinden des eigenen Wertes. „Menschen, die Liebe und Zugehörigkeit erfahren, glauben, dass sie es wert sind. Das ist alles", fasst die Wisschenschaftlerin zusammen. Diese Menschen faszinierten sie, und um sie genauer zu verstehen, suchte sie nach weiteren Mustern, die sie gemeinsam hatten.
Mut war so ein Muster. Sie trauten sich, ihre Geschichte mit ihrem ganzen Herzen zu erzählen. Sie hatten Mitgefühl – mit sich selbst und mit anderen, denn auch das zeigte Browns Forschung: Nur wer Mitgefühl mit sich selbst hat, kann es auch mit anderen haben. Verbindung mit anderen fiel Brown ins Auge. Sie war ein Ergebnis von Authentizität. Die Menschen hatten sich gewagt, ihre Idee davon, wer sie sein sollten loszulassen und stattdessen zu werden, wer sie wirklich sind. Doch beim Thema Verletzlichkeit wurde es schwierig. Die Probanden „umarmten Verletzlichkeit", sie hielten sie nicht für einfach, aber für notwendig. Die interviewten Personen erzählten ihr, dass sie bereit waren der Erste zu sein, der „ich liebe dich" sagt, etwas zu tun, bei dem es keine Garantien gibt, in eine Beziehung zu investieren, die vielleicht gutgeht, vielleicht auch nicht.
Die Mission, Verletzlichkeit zu verhindern oder gar ganz auszumerzen, war gescheitert. Brené Brown hatte mittels ihrer Forschung bewiesen, dass das Leben nur mit Verletzlichkeit funktioniert. Sie erlitt einen Nervenzusammenbruch und suchte sich eine Therapeutin. Die nannte das Ganze etwas charmanter „spirituelles Erwachen".
An Verletzlichkeit wolle sie arbeiten, denn ihre Forschung habe gezeigt, dass Verletzlichkeit der Kern von Scham, Angst und der Suche nach dem eigenen Wert ist. Aber eben auch der Ursprung von Freude, Kreativität, Zugehörigkeit und Liebe. Die Therapie, sagt Brown, war für sie wie ein einjähriger Straßenkampf. Die Verletzlichkeit schlug zu, sie schlug zurück. „Ich habe diesen Kampf verloren, aber ich habe mein Leben zurückgewonnen", erklärt die Wissenschaftlerin.
Danach wollte sie unbedingt verstehen, warum wir uns damit so schwertun, verletzlich zu sein. Brown begann, die Menschen danach zu fragen, wann sie sich verletzlich fühlten. „Wenn ich krank bin und meinen Mann um Hilfe bitten muss", „wenn ich versuche, Sex mit meiner Frau zu initiieren", „jemanden nach einem Date zu fragen" oder „wenn ich darauf warte, dass der Arzt zurückruft" waren einige der Antworten, die sie bekam. Wir leben, so schloss Brown, in einer verletzlichen Welt. Verletzlichkeit ist nach ihrer Definition Unsicherheit, Risiko und emotionale Entblößung. Eine Methode damit umzugehen, sei, dieses Gefühl zu betäuben. „Wir sind die höchst verschuldeten, übergewichtigsten, süchtigsten und meist-medikamentierten Erwachsenen in der Geschichte der USA."
Unsicherheit, Risiko, emotionale Entblößung
Betäuben, erklärt es Brown, kann man nicht selektiv. Wer schwierige Emotionen wie Angst, Scham und Enttäuschung betäube, betäube auch Gefühle wie Freude, Glück und Dankbarkeit. Aber es gebe auch einen anderen Weg. Drei große Pfeiler macht sie dafür aus: zulassen, dass man gesehen wird, verletzlich gesehen wird. Dankbarkeit und Freude zu üben sei ebenso wichtig, wie daran zu glauben, dass man genug sei. „Wenn wir von einem Punkt aus handeln, an dem wir glauben, zu genügen, hören wir auf zu schreien und beginnen zuzuhören. Wir sind dann liebevoller und freundlicher zu den Menschen um uns herum und auch zu uns selbst."
Nicht alle können sich mit der Idee der Verletzlichkeit anfreunden. Bei einem Vortrag, den Brené Brown vor 150 Hegde-Fond-Managern in London hielt, grätschte ihr nach fünf Minuten einer der Männer dazwischen. „Ich weiß nicht, warum Sie hier sind. Wir sind in einer hoch wettbewerbsorientierten Industrie, Verletzlichkeit ist für uns einfach keine Option", erklärte er. Mit seiner Frustration schien er nicht alleine. „Was ist verletzlicher als vor einer Gruppe von Leuten, mit denen Sie arbeiten, aufzustehen und zu sagen, ‚was wir hier machen, ist nicht das Richtige‘? Was ist mutiger, als eine ethische Entscheidung zu treffen, wenn Ihre gesamte Gruppe die andere Richtung einschlägt?", antwortete Brown. Verletzlichkeit, so die Forscherin, betreffe jeden. Verletzlichkeit sei die Bereitschaft, sich zu erkennen zu geben und ein unsicheres Ergebnis in Kauf zu nehmen. Es gäbe keinen einzigen Akt des Mutes, in dem Verletzlichkeit nicht involviert wäre. Und: „Wenn Sie eine Arbeitskultur geschaffen haben, in der Verletzlichkeit nicht okay ist, dann haben Sie auch eine Kultur geschaffen, in der Kreativität und Innnovation nicht okay sind." Tatsächlich weisen auch verschiedene Untersuchungen aus der Gesundheits- und Sozialpsychologie auf die Bedeutung der Verletzlichkeit hin. Forscher haben herausgefunden, dass Patienten, die sich ihrer Verletzlichkeit bewusst sind, eher an Präventionsmaßnahmen und Vorsorgeuntersuchungen teilnehmen. Man könne alles über eine Krankheit wissen, sogar Betroffene kennen, solange man nicht glaubt, dass man selbst auch einmal betroffen sein könnte, dass man diesbezüglich verletzlich sei, würden Menschen selten etwas dagegen unternehmen.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen Sozialpsychologen, die untersucht haben, wie sehr sich Probanden von Marketing und Werbung beeinflussen lassen. Diejenigen, die dachten, sie wären am wenigsten anfällig für die Botschaften der Werbung, waren tatsächlich diejenigen, die am anfälligsten waren. Die Illusion der Unverwundbarkeit verhindert die nötigen Schutzmaßnahmen – ganz gleich ob Kopf oder Körper. Seine eigene Verletzlichkeit anzuerkennen ist demnach der erste Schritt. Judith Jordan vom Wellesey College schreibt: „Unsere Verletzlichkeiten anzuerkennen, ist nur möglich, wenn wir das Gefühl haben, dass wir Unterstützung bekommen können. Dazu sind sichere, kompetente Beziehungen nötig." Die Wahrscheinlichkeit also, dass Menschen Einsicht und Mut hinsichtlich ihrer persönlichen Verletzlichkeiten finden, hängt davon ab, ob sie sich mit jemandem darüber austauschen können, dem sie vertrauen.
Brown selbst erlebte nach ihrem Zusammenbruch und der Auseinandersetzung mit Verletzlichkeit einen riesigen Durchbruch. Ihr „Ted Talk" dazu wurde über 33 Millionen Mal geklickt und machte sie über Nacht zum Superstar. Ihre Bücher wurden allesamt zu Bestsellern.
Brené Brown ist mittlerweile gefragte Rednerin, sprach schon bei Google, der Nasa und im Weißen Haus. Für ihr eigenes Leben scheint also zu gelten, was sie in ihrem Buch proklamiert: „Verletzlichkeit macht stark".