Engagement für Frauenemanzipation, Gleichberechtigung, sexuelle Selbstbestimmung und Freizügigkeit, liberale Kindererziehung sowie neue Formen des sozialen Zusammenlebens: all diese Strömungen waren für den Wandel der Gesellschaft nach 1968 nachhaltiger als Demos oder linke Polit-Träumereien.
Als die selbstherrlichen Genossen der Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), dem eigentlichen Motor der Studentenrevolte, in Frankfurt am Main am 13. September 1968 mit Ignoranz auf die Ausführungen zum Thema „Gleichberechtigung der Geschlechter" von Helke Sander reagiert hatten, die als einzige Frau überhaupt eine Rede halten durfte und dabei das Konzept des von ihr einige Monate zuvor in Berlin mitbegründeten Aktionsrat zur Befreiung der Frau erklärt hatte, flogen die Tomaten. Genauer gesagt, deren drei, geworfen von der Studentin Sigrid Rüger, die auf dem Podium den SDS-Cheftheoretiker Hans-Jürgen Krahl ins Visier genommen hatte. Das Ganze war zwar nur eine gelungene Provokation, hatte aber für die Frauenemanzipation in der Bundesrepublik so etwas wie Signalcharakter und sollte letztlich die Geburtsstunde der Neuen Frauenbewegung in Deutschland werden.
Danach sollte es nicht mehr länger möglich sein, eine feministische Debatte über die Ausbeutungsverhältnisse von Frauen einfach zu unterbinden, wie es die männlichen Aktivisten der 68er-Bewegung bis dahin getan hatten. Die Genossen wollten zwar alle Völker dieser Erde befreien, nur nicht ihre eigenen Gefährtinnen. Denn die männlichen Revolutionäre wollten am tradierten Rollenbild der Frau in der Gesellschaft nicht rütteln, sondern den Frauen weiterhin notwendige Übel wie Kinderbetreuung, Wäschewaschen oder das Tippen und Verteilen von Flugblättern überlassen, letzteres am besten in knappen Miniröcken fürs Macho-Auge. Der Tomatenwurf war dank ausführlicher Darstellung in den Medien Auslöser für die Gründung von „Weiberräten" in allen deutschen Universitätsstädten – der Frankfurter Ableger sorgte mit einem Flugblatt für Aufsehen: „Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen."
Feministische Netzwerke blieben intakt
Zwar verschwanden diese Gruppierungen wenig später wieder von der Bildfläche, doch die feministischen Netzwerke blieben intakt, weshalb es rund um das Abtreibungsverbot und dem Kampf gegen den Paragrafen 218 Anfang der 70er-Jahre wieder zur Gründung von Frauengruppen, Frauenzentren (das erste wurde 1973 in Berlin eröffnet) und Beratungsstellen wie Pro Familia in der gesamten Republik kam. Dabei war der Ausgangspunkt die Selbstbezichtigung „Ich habe abgetrieben" von 374 Frauen in der Ausgabe vom 6. Juni 1971 im Magazin „Stern", eine Aktion, die von der Journalistin Alice Schwarzer initiiert worden war. Weil sich nicht mehr nur Fachleute mit der Reform des Paragrafen 218 beschäftigten, sondern die Kampagne von Frauen als Betroffenen durch alle soziale Schichten getragen wurde, kam es schließlich am 21. Juni 1976 zum Kompromiss in Form der Fristenlösung, die durchaus als Erfolg zu bewerten war.
Im März 1972 fand der erste Bundesfrauenkongress in Frankfurt statt, zur gleichen Zeit bildeten sich die ersten Lesben-Gruppen. Im Sommer 1973 kam es zu ersten Streiks gegen die Lohndiskriminierung von Frauen, ein Jahr später wurde die Debatte „Lohn für Hausarbeit" lanciert. Ab Mitte der 70er-Jahre tauchten Frauenverlage mit Magazinen wie „Courage" oder „Emma" auf. Anfang der 80er-Jahre wurden die ersten Frauenhäuser und der erste Lehrstuhl für Frauenforschung eröffnet. Zudem etablierte sich mit den Grünen eine Partei, die sich dem Feminismus verpflichtet fühlt. Selbst die CDU musste reagieren und berief 1986 Rita Süßmuth zur ersten Frauenministerin. Ende der 80er geriet die Frauenbewegung zusehends aus dem Blick der Öffentlichkeit, obwohl auch heute noch viele Probleme ungelöst sind, etwa der Mangel von Frauen in Spitzenpositionen oder Lohnungleichheit für Frauen. Aber ohne die 68er-Frauen hätte es wohl bis heute keine Bundeskanzlerin gegeben.
Auch in Sachen Gleichberechtigung in der Partnerschaft haben die 68er die Grundvoraussetzungen geschaffen. Auch wenn es einige Zeit dauerte, bis endlich 1977 das Gesetz gestrichen wurde, das bis dahin dafür gesorgt hatte, dass der Mann in der Ehe automatisch der Haushaltsvorstand war und über Frau und Kinder nach eigenem Ermessen bestimmen konnte. Dass es die soziale Lebensform Familie überhaupt noch gibt, hatten die 68er allerdings gar nicht vorgesehen. Sie stellten die Kleinfamilie als Kernzelle der bürgerlichen Gesellschaft von Anfang an in Frage, weil sie in ihr auch den Nährboden für die Entstehung des Faschismus ausgemacht hatten.
Auf dem Weg zur freien Entfaltung der eigenen Persönlichkeit schien die Familie, mit ihren tradierten hierarchisch-patriarchalischen Strukturen, absolut hinderlich zu sein. Es galt, neue Formen der Lebensgemeinschaft zu finden und auszuprobieren, in der alle Beteiligten gleichberechtigt sein sollten. Als Paradebeispiel für neue Lebensformen und gleichzeitig auch für die sexuelle Befreiung galt die im Januar 1967 in Berlin etablierte, ursprünglich achtköpfige Kommune I (vier Männer und vier Frauen) mit Fritz Teufel, Dieter Kunzelmann und vor allem ihrem Mitbegründer Rainer Langhans, dessen bundesweite Popularität nach dem Einzug des bildschönen Fotomodels Uschi Obermaier ein Jahr später noch erheblich gesteigert wurde.
Obwohl erst 1974 der Kuppeleiparagraf offiziell abgeschafft werden sollte, der Erwachsenen unterschiedlichen Geschlechts das gemeinsame Übernachten verbot, wenn sie nicht verheiratet waren, propagierten Langhans & Co. die freie Liebe, Gruppensex und Promiskuität. Die wurde durch die Antibabypille, die seit 1961 auf dem Markt war, erheblich erleichtert. Ein berühmtes Schlagwort machte die Runde: „Wer zweimal mit de(r)mselben pennt, gehört schon zum Establishment." Damit wurde jeglicher Besitzanspruch an einen potenziellen Partner als spießig abgetan. Allerdings scheinen vor allem die männlichen Genossen die freizügige Sexualität genossen zu haben, während der Frankfurter Weiberrat sich schon 1968 über einen „sozialistischen Bumszwang" beklagt hatte. Schon wenige Jahre später sollten sich dann viele deutsche Männer darüber echauffieren, dass Sex mit ihren emanzipierten und frauenbewegten Partnerinnen einfach keinen Spaß mehr mache. „Die Frauenbewegung, die hat uns auf Null Bock gebracht", war 1972 im „Stern" zu lesen.
Untertanengeist wurde abgeschafft
Nach dem Vorbild der Kommune I, die Ende 1969 aufgelöst wurde, entstanden viele weitere Kommunen, aus denen sich dann Ende der 70er in der gesamten Republik die Wohngemeinschaften entwickelten. Bis heute gelten sie als reine Zweckgemeinschaften alternativ angehaucht oder als Edel-WG, die aber mit den Idealen der 68er ebenso wenig zu tun haben wie die wachsende Zahl der Single-Haushalte. Mit letzteren hätten die 68er nichts anfangen können. Den damit verbundenen Zugewinn an persönlicher Freiheit hätten sie womöglich sogar begrüßt, aber ihr Ziel war eben gerade nicht die Reduzierung sozialen Zusammenlebens, sondern genau das Gegenteil, nämlich die Idee einer neuen Art von Großfamilie. Der rasante Wertewandel hinsichtlich des heterosexuellen Sexualverhaltens sollte auch einem Umdenken gegenüber der Homosexualität den Boden bereiten. Der „Schwulenparagraf" wurde 1969 erstmals entschärft, 1973 reformiert und 1974 endgültig gestrichen. Die Aufhebung der Strafbarkeit sollte zur entscheidenden Vorbedingung für die Entstehung der Schwulen- und Lesbenbewegung werden.
Hochaktuell sind die 68er auch in Sachen Kindererziehung geblieben. Weil sie unter dem Stichwort „Antiautorität" immer wieder in öffentlichen Diskussionen für alle möglichen Missstände und einen damit verbundenen Werteverfall verantwortlich gemacht werden. Beruhend auf einem 1965 erschienenen Büchlein von Theodor W. Adorno mit dem Titel „Erziehung nach Auschwitz" waren die 68er mit Rudi Dutschke an der Spitze zu der Erkenntnis gelangt, dass der Faschismus in der autoritären Persönlichkeit verwurzelt war, die wiederum aus einer autoritären Erziehung entsprungen war. Auf die Fragestellung, wie sich Erziehungsverhältnisse so gestalten lassen, dass nachfolgende Generationen nicht mehr anfällig für ein System wie den Nationalsozialismus sein konnten, wurde mit der Losung „Erziehung zur Kritikfähigkeit" beantwortet.
Die Kinder sollten anders aufwachsen als ihre Eltern, Untertanengeist und Angepasstheit abgeschafft werden. Sie sollten zu mündigen, kritikfähigen und selbstbestimmten Menschen erzogen werden, wobei als zentraler Bestandteil die Fähigkeit zum Widerstand gehören sollte. Ein mehr als ambitioniertes Unterfangen in einer Zeit, als in regulären Kindergärten noch renitente Kleine festgebunden wurden und bis 1973 Erzieher und Lehrer noch von ihrem Recht auf körperliche Züchtigung regen Gebrauch machten. Da blieb den 68ern eigentlich nichts anderes übrig, als in Eigeninitiative mit Hilfe von Elternkollektiven Kinderläden aufzubauen, einen Vorläufer hatte Monika Seifert schon 1967 in Frankfurt-Eschersheim gegründet.