Der Zoff zwischen CDU und CSU ist mehr als ein Streit über Flüchtlingspolitik
Dies sind dramatische Tage für die deutsche Innenpolitik. Die Geschichte der Schwesterparteien CDU und CSU war zwar immer auch eine Geschichte der inhaltlichen Reibungsflächen, Eifersüchteleien und der mit harten Bandagen ausgetragenen Kämpfe um die Führung der Union. Doch nun steht eine Konfrontation ins Haus, die die Fraktionsgemeinschaft sprengen könnte – mit unabsehbaren Folgen für das Regieren in Deutschland.
Auslöser dieser erbitterten Auseinandersetzung ist der Streit um die Flüchtlingspolitik. Im Mittelpunkt steht das Duell zwischen Innenminister Horst Seehofer (CSU) und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Seehofers kantige Ankündigung, künftig Migranten, die bereits in anderen EU-Ländern Asyl beantragt haben, an der deutschen Grenze zurückzuschicken, setzt Merkel immens unter Druck. Sie hält an ihrer Absicht fest, eine europäische Lösung für die solidarische Verteilung von Flüchtlingen zu erreichen.
Was Seehofer antreibt, ist klar. Im Oktober sind Landtagswahlen in Bayern. Der CSU sitzt die AfD im Nacken, die auf einer Das-Boot-ist-voll-Stimmung reitet und die absolute Mehrheit der Christsozialen ernsthaft gefährdet. Zudem hat Seehofer zwei Tempomacher im Kreuz: Ministerpräsident Markus Söder und der Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Alexander Dobrindt. Beide schielen auf Seehofers Nachfolge als Parteivorsitzender. Noch etwas anderes kommt hinzu. Seehofers Verhältnis zu Merkel ist irreparabel beschädigt. Der Bayer hatte die Öffnung der Grenzen im September 2015 für einen kapitalen Fehler der Kanzlerin gehalten, aber aus wahltaktischen Gründen die meiste Zeit stillgehalten. Nun lässt er seinem Groll freien Lauf.
Die Kanzlerin flüchtet sich in die Hoffnung, beim EU-Gipfel am 28. und 29. Juni eine gemeinschaftliche Regelung für Migranten zu erzielen. Merkel weiß zwar mittlerweile, dass sich ihre Vorstellung von einer europäischen Verteilquote als Illusion entpuppt hat. Sie setzt nun bei in Deutschland ankommenden Flüchtlingen, die bereits in anderen Ländern registriert wurden, auf bilaterale Rückführungsabsprachen – etwa mit Italien oder Griechenland.
Die Chancen hierfür stehen allerdings schlecht. Italien und Griechenland hatten einen massiven Ansturm an Migranten zu bewältigen und wurden von Brüssel über weite Strecken allein gelassen. Warum sollten ausgerechnet sie noch mehr Flüchtlinge ins Land lassen? Merkel wird dennoch beim bevorstehenden EU-Gipfel einen Deal anstreben. Denkbar ist zum Beispiel, dass sie Athen Zusagen für Schuldenerleichterungen macht, wenn die internationalen Hilfskredite im August auslaufen. Rom soll möglicherweise mit der Aussicht geködert werden, beim Defizit künftig auf mehr Großzügigkeit zu stoßen. Beides wäre ein Kuhhandel.
Ein derartiger fauler Kompromiss würde ignorieren, dass in der EU ein Gezeitenwechsel stattgefunden hat. Die Neinsager bei der Aufnahme von noch mehr Migranten sitzen inzwischen nicht nur in Ungarn, Polen oder in der Slowakei. Sie sind in Kerneuropa angekommen. Italiens neuer starker Mann, Innenminister Matteo Salvini, hat die baldige Abschiebung von rund 500.000 Flüchtlingen angekündigt. Österreichs Kanzler Sebastian Kurz, der mit der rechtspopulistischen FPÖ koaliert, wirbt für eine „Achse der Willigen" zwischen Rom, Berlin und Wien. Selbst Frankreichs Präsident Emmanuel Macron drückt auf die Stop-Taste und bringt Asyl-Prüfzentren außerhalb der EU – etwa in Nordafrika – ins Spiel.
Merkel will am 1. Juli die Spitzengremien der Union informieren. Bis dahin muss sie eine Vereinbarung liefern, die die CSU als Erfolg verkaufen kann. Andernfalls droht das Auseinanderbrechen der Schwesterparteien. Scheren die Christsozialen aus, bliebe Merkel für den Machterhalt nur ein Bündnis aus CDU, SPD und Grünen: Schwarz ohne Bayern, Rot und Grün – eine Afghanistan-Koalition, nach den Nationalfarben des Landes am Hindukusch.
Die Kanzlerin wäre erheblich geschwächt und hätte eine Opposition aus CSU, FDP, Linker und AfD gegen sich. Im Asylstreit zwischen den Unions-Geschwistern läuft der Countdown. Dahinter steckt jedoch mehr als Parteien-Zoff. Die tektonischen Erschütterungen zeugen von einem Beben, das mittlerweile auch die deutsche Flüchtlingspolitik erfasst. Regieren wird schwieriger.