Ohne Fantasie, Kreativität, Mut zu ungewöhnlichen Modellen und handwerkliches Geschick geht es nicht, wenn man Modedesigner werden will. Im Lette-Verein erproben sich die Schüler an einer Kollektion namens „Nocturnal".
Im hellen Schnittsaal in der dritten Etage des Lette-Vereins in Berlin-Schöneberg herrscht ordentlich Betrieb: Alle Arbeitstische sind besetzt, Nähmaschinen surren, mit einem Dampfbügeleisen werden Stoffbahnen geglättet. An einem Pinnbrett hängen Entwürfe und Schnittmuster, auf Figurinen sind wuchtige Daunenjacken und Blousons im Pepita-Look aufgezogen.
Verschiedene Ausbildungsgänge
Schülerinnen und Schüler des ersten Ausbildungsjahrs Modedesign sind in diesen Wochen dabei, ihre Semester- oder Teamkollektion „vom Papier in die Realität umzusetzen" – so formuliert es Martina Vogt, die Abteilungsleiterin Modedesign. Und sie erklärt, wie die Klasse mit ihr das Thema der Kollektion „Nocturnal" entwickelt hat. So habe man erst einmal recherchiert, vor allem im Internet, sei schnell auf die Schlagworte „Nacht", „Ausgehen", „Draußen sein" gekommen. Dann folgte die Überlegung: Wie könnten hier stylisches Design und Funktionalität zusammengehen? Welche Materialien kämen infrage – auch für Sonder-Situationen, zum Beispiel, wenn es regnet?
Der nächste Schritt: Alle Schülerinnen und Schüler mussten ein sogenanntes „Moodboard" konzipieren – eine Sammlung unterschiedlicher Quellen als Inspiration für ihre Kollektion. Ausschnitte aus Bildern, Filmzitate, Schnappschüsse, Plattencover und mehr flossen da ein. Danach ging es um Materialien – hier entschieden sich die Modeschüler unter anderem für dunkle beschichtete Stoffe, aber auch für transparentes Organdy, einen weißen Batiststoff.
Das greife die Idee von wabernden Nebelschwaden in der Nacht auf, erläutert Kathrin Hüfner, während sie Stoff auf ihrem Arbeitstisch zurechtzupft. Daraus wird ein Hemdkleid für den Mann entstehen, „mit femininen und maskulinen Details". Und während Kathrin prüfend den zarten Organdy gegen das dunkle Violett des Stoffes hält, erzählt die junge Frau, dass sie seit Jahren begeisterte Näherin sei. Bereits zur Konfirmation habe sie Nähbücher bekommen, vor Beginn der Modeausbildung an der Lette-Schule mehrere Praktika absolviert, unter anderem in der Kostümbildnerei des Staatstheaters Mannheim. Und nach den drei Jahren in Berlin könne sie sich gut vorstellen, im Bereich Kostüm tätig zu sein – am Theater oder beim Film.
Organdy-Stoff für die nächtlichen Nebelschwaden
Das wäre für eine Absolventin der Ausbildung Modedesign am Lette-Verein nicht ganz untypisch, wie Ausbildungsleiterin Martina Vogt bestätigt. Die dreijährige Ausbildung in dem historischen Gebäudekomplex am Viktoria-Luise-Platz ist nur eine von rund zehn ähnlichen Angeboten in der Hauptstadt. Universitäten, Fachhochschulen oder private Institute bieten Studien- oder Ausbildungsgänge mit unterschiedlich gelagerten Schwerpunkten an. Und auch die Kursgebühren sind unterschiedlich hoch und teils richtig gesalzen: Sie können für ein gesamtes Studium von sechs bis sieben Semestern schon mal im fünfstelligen Bereich liegen.
Klar spielen die Kosten eine Rolle – der Vorrang bei der Wahl der Ausbildungsstätte liegt jedoch auf der jeweiligen Ausrichtung. An der Universität der Künste, wo einst Vivienne Westwood lehrte, legt man beispielsweise Wert auf das Zusammenspiel von Kunst und Design, lässt aber auch theoretische Diskurse, etwa die Ansätze moderner französischer Philosophie, in den Lehrplan einfließen. Bekannt ist auch die Esmod, die im vergangenen Jahr schließen musste, weil sie den Sprung von einer Privatschule zu einer Kunsthochschule nicht schaffte: Sie forderte ihren Studenten viel Disziplin ab, sorgte aber auch für eine mehr als solide handwerkliche und künstlerische Basis. Esmod-Studenten kooperierten schon während ihrer Ausbildung immer wieder mit Unternehmen, für die die angehenden Designer Kollektionen „unter Echtbedingungen" entwerfen konnten. Eine harte Schule, aus der Designerpersönlichkeiten wie Marina Hoermanseder oder das Duo Alexandra Fischer-Roehler und Johanna Kühl von „Kaviar Gauche" hervorgegangen sind. Sie sind längst feste Größen der Berliner Designerszene und über die Stadt hinaus bekannt und gefragt.
Mit solchen und ähnlichen Erfolgsgeschichten schmücken sich Hochschulen und private Schulen gern. Das betont den Glamour-Faktor der Branche und lenkt vielleicht ein Stück weit davon ab, dass Berlin auch ein sehr schwieriges Pflaster für Absolventen der Modeausbildungen sein kann. Pro Jahr werden schätzungsweise 200 bis 300 frisch diplomierte Modedesignerinnen und -designer auf einen Markt entlassen, der in der Hauptstadt für Berufsanfänger nicht schrecklich viel hergibt.
„Wenn man in Berlin nicht bei Zalando arbeiten will, gibt’s nicht so viel", bestätigt auch Natalia Weimann, die zunächst in ihrer Heimatstadt Krefeld eine Ausbildung zur Bekleidungstechnischen Assistentin und zur Damenschneiderin absolvierte, woran sich die Ausbildung im Lette-Verein anschloss.
Gute Sprachkenntnisse können von Vorteil sein
„Ich habe nach dem Studium sofort einen Job bekommen. Damit habe ich echt Glück gehabt", erzählt die 36-Jährige. Sie arbeitete mehrere Jahre für das Modeunternehmen Steilmann, dessen Kollektionen unter anderem bei Adler vertrieben werden. Pluspunkt für sie war dabei ihre Herkunft – Natalia stammt aus Kasachstan und spricht fließend Russisch. So konnte sie beispielsweise den Kontakt zu den Produktionsstätten in osteuropäischen Ländern halten und diese besuchen. Wer nicht über ein Alleinstellungsmerkmal wie in ihrem Fall die besonderen Sprachkenntnisse verfüge, habe es aber oft schwer, meint Natalia.
Zumal die Modeausbildungen oft wenig auf die harte Realität „im echten Leben" vorbereiteten. „Alle wollen das Kreativste und Größte, aber keiner bereitet einen auf die Außenwelt vor. Dann kommt nach dem Studium die kalte Dusche. Bei S. Oliver kannst du eben keinen Rückenausschnitt bis zum Po machen."
Überlegungen, die in einem künftigen Berufsleben womöglich eine Rolle spielen – an diesem Vormittag im Schnittsaal der Lette-Schule aber noch nicht. Im Gegenteil. Ute Vogt, die Leiterin des Bereichs Modedesign blättert sich durch einige Portfolios der Erstklässler für deren Teamkollektion „Nocturnal". Auf mehreren farbigen Zeichnungen hat jeder Schüler Variationen eines Outfits aus Hose, Oberteil und Blouson, wahlweise einem weit schwingenden Mantel entwickelt. Zeichnungen, denen das eine oder andere besondere Talent deutlich anzusehen ist. Sie sei schon gespannt darauf, sagt Vogt, wie die einzelnen Teile letztlich aussehen, sich anfühlen würden. Schließlich sollen hier ganz unterschiedliche Materialien wie Lack, Baumwolle, Organdy, aber auch signalgelbe Spanngurte verarbeitet werden.
Und schon geht es um die Tücken der Materialverarbeitung – Frieda will eine Kapuze aus zartem Organdy-Stoff an ihren Mantel setzen, doch die Innennähte geraten zu dick, pieken am Kopf. Was tun? Lehrerin und Schülerin haben gemeinsam schnell die Lösung parat: Warum nicht das Ganze auf außen wenden, die Nähte absichtlich noch etwas plastischer gestalten – als zusätzliches auffälliges Detail?
Frieda steuert zufrieden wieder ihre Nähmaschine an, die 20-Jährige fühlt sich, wie sie sagt, in der Modeausbildung am Lette-Verein ausgesprochen wohl. Der Praxisbezug sei auch im Vergleich zu anderen Studien- und Ausbildungsgängen im Bereich Mode sehr groß – so gefällt es Friedas Mitschülerin Leonie, dass man unter anderem „sehr gründlichen" Zeichen- und Nähunterricht hat.
„Unsere Schüler sind nach drei Jahren fit für den Markt", betont Martina Vogt. „Sie können beispielsweise in einem großen Modeunternehmen ebenso wie im Bereich Kostümdesign arbeiten. Oder sich selbstständig machen, ihr eigenes Label gründen." Dafür brauche man aber viel Durchsetzungsvermögen, den richtigen Biss – und wirtschaftliche Grundkenntnisse. Die allerdings werden meist nicht im Rahmen von Modestudiengängen und -ausbildungen vermittelt.
Mit Biss und der richtigen Idee
Wie schwer es letztlich ist, eigene Designideen nicht nur umzusetzen, sondern damit auch Gewinn zu machen, haben auch Jasmin Moallim (42) und Julia Chevalley (36) erfahren. Sie lernten sich während ihres Studiums an der Esmod kennen, gründeten ihr eigenes Herren-Label „QED", das sie drei Jahre lang auch international vertrieben. Dann aber gaben sie auf, weil es ihnen nicht gelang, dauerhaft wirtschaftlich zu arbeiten. Jetzt sind die beiden mit einer neuen Geschäftsidee am Start und betreiben mit dem „Les Soeurs Shop" einen der wenigen Concept Stores für Plus Sizes, also Übergrößen, in Deutschland. Sie haben ihre Nische auf dem hart umkämpften Modemarkt gefunden – und sie haben damit Erfolg. Ein Konzept, das Martina Vogt sofort bestätigen würde. Kreativität und handwerkliches Können reichten eben oftmals nicht aus, sagt sie. Mit der richtigen Idee aber könne man trotz der harten Konkurrenz durchaus Erfolg haben.