Erst die Anker-Zentren, jetzt der ganz große „Masterplan Migration". Es geht um knallharte Machtkämpfe bei der Besetzung von Begriffen. Worum es dabei inhaltlich geht, weiß kaum noch einer. Was offenbar einigen ganz recht ist.
Letzte Rettung Europa. Was sich liest wie eine Überlebenshoffnung von Menschen in Kriegs-, Krisen- und Notstandsgebieten, ist für Bundeskanzlerin Angela Merkel anscheinend der letzte Ausweg, um sich des bayrischen Dauerfeuers zu erwehren. Nach all den Vorgeschichten um die „Europapolitik" unter der Kanzlerschaft Merkels war dieser Hoffungsschimmer von Anfang an ziemlich schwach. Der große Gipfel dieser Tage wird daran nichts ändern.
Die Eskalationen der letzten Wochen im unionsinternen Machtkampf basieren weder auf neuen Entwicklungen, noch geht es um das Ringen um eine Neuausrichtung der Politik. Einzig der Kampf um die Hoheit über Begriffe scheint ausschlaggebend. Der Streit um die sogenannten „Anker-Zentren" war, im Nachhinein betrachtet, offensichtlich ein erstes Übungsfeld. Kaum war der Begriff von Innenminister Horst Seehofer (CSU) in die Debatte eingeführt, entbrannte der erwartbar heftige Streit. Nur was ein „Anker-Zentrum" tatsächlich sein soll, ist bis heute ungeklärt. Gegner befürchten stacheldrahtgeschützte Abschiebelager, andere vermuten, es gehe in erster Linie darum, unterschiedliche Zuständigkeiten zu bündeln und damit Verfahren effektiver zu gestalten. „Schnelligkeit und Sicherheit" der Asylverfahren sollen die zentralen Motive zur Einrichtung sein, meint der Bundesinnenminister. Letztlich verrät aber schon der vollständige Name hinter dem Kürzel die Absicht: „Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückführungseinrichtung". Bekannt ist nur, dass bis zum Spätherbst an die Einrichtung von sechs Pilot-Ankerzentren mit einer Kapazität von bis zu 1500 Personen gedacht war. Wer in der hitzigen Debatte mehr wissen wollte, stieß nur auf offene Fragen.
Undefinierte Anker-Zentren
Entsprechend die Reaktionen: Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hob mit als Erster die Hand zur Bewerbung. Sachsen ist bekannt für eine relativ geringe Akzeptanz von Flüchtlingen in der Bevölkerung. Zudem war Sachsen Spitzenreiter bei Angriffen und Anschlägen gegen Flüchtlinge und deren Unterkünfte. Im Saarland dagegen gilt die zentrale Landesaufnahmestelle in Lebach als Vorzeigeprojekt, auch, weil dort bereits sehr früh alle zuständigen Behörden eine enge Zusammenarbeit organisiert haben, frei nach Seehofers Plan: „Alles unter einem Dach" – im Übrigen in einer offenen Siedlung und lange bevor das „Anker"-Wort Einzug in der politischen Diskussion gefunden hatte. Anfang Juni hieß es nun, Seehofer wolle demnächst seine Pläne konkretisieren, wobei unverhofft dann auch von „ankerähnlichen Einrichtungen" die Rede war. Kurzum: Wochenlang beherrschte die Diskussion die Schlagzeilen, und bis heute ist unklar, worüber der Streit im Konkreten geht. Das lässt jedem offen, sich etwas anderes darunter vorzustellen.
Der aktuelle Streit folgt diesem Muster in verschärfter Form. Seit Wochen wird über die höchsten politischen Konsequenzen von Seehofers 63-Punkte-„Masterplan" zur Migrationspolitik spekuliert. Ende der Ära Merkel? Ende der Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU? Bruch der Großen Koalition? Neuwahlen? Vielleicht würde sich ja auch lohnen, über die inhaltlichen Vorschläge dieses „Masterplans" eine politische und gesellschaftliche Meinungsbildung zu finden. Denn dass sich Deutschland in der Flüchtlings- und Migrationspolitik neu aufstellen muss, steht außer Frage. Dazu gehört auch, mit der alten Lebenslüge, kein Einwanderungsland zu sein, abzuschließen. Aber auch ernsthaft und konstruktiv an der Korrektur der Fehlkonstruktion europäischer Flüchtlingspolitik zu arbeiten, von der Deutschland lange profitiert hat, und zugleich die, die die Hauptlast als Mittelmeer-Anrainer trugen und tragen, ziemlich allein hängen zu lassen. Dass das kein Ruhmesblatt war, hat die Kanzlerin inzwischen, wenn auch nur ziemlich kleinlaut, eingeräumt. Letztlich würden womöglich die bayrischen Vorschläge zu ähnlichen Zuständen wie seinerzeit führen. Aber das ist nur Spekulation. Denn was wirklich in diesen 63 Punkten des Innenministers steht, wusste bislang keiner. Was niemanden davon abhielt, sich kräftig in die Diskussion einzumischen. Nachdem erneut, wie beim „Anker"-Streit, wochenlang bereits heftige Debatten tobten, haben die Grünen zuletzt schlicht einmal einen Fragenkatalog an den Innenminister geschickt und als Opposition auf eine Fragestunde im Bundestag gedrängt, um dort endlich etwas über die „62,5 Punkte" zu erfahren, von denen Seehofer öffentlich behauptet, darüber herrsche Übereinstimmung mit der Kanzlerin. Nur was in diesen Punkten drinsteht, verrieten eben bislang weder er noch die Kanzlerin.
Geheimnisvoller Masterplan
Und so manchen scheint der Streit ums Kanzleramt eben auch interessanter als inhaltliche Fragen, die durchaus das grundlegende Selbstverständnis eines Landes im Umgang mit anderen prägen.
Das Muster ist allerdings nicht neu. Nicht unähnlich verlief die Debatte um die „Obergrenze". Die endete mit einem vergleichsweise offenen Formelkompromiss, in dem die Zahl 200.000 steht (plus ein rigide geregelter Familiennachzug), allerdings mit der Formulierung von „soll" (nicht überschritten werden) und der unbeantworteten Frage, wie man mit dem 200.001sten Menschen verfahren würde. Auch da wurde ein Begriff („Obergrenze") besetzt, aber nichts wirklich geklärt. Im vergangenen Jahr wurden übrigens rund 186.000 Asylsuchende registriert. Der Lackmustest blieb folglich allen erspart.