In der aufgeheizten Flüchtlingsdebatte um Schlagworte wie Grenzschließung und Anker-Zentren rät die OECD zu einer sachlichen Analyse. In Deutschland gibt es wesentlich mehr europäische Arbeitsmigranten als Flüchtlinge. Die deutsche Politik setzt falsche Akzente, sagt OECD-Migrationsexperte Thomas Liebig.
Herr Liebig, die OECD-Studie 2018 zur Migration ist da – gab es irgendwelche Überraschungen?
Die größte Überraschung war für uns, dass selbst im Rekordjahr 2016 der größte Teil der Zuwanderer nicht aus dem Asylbereich kam, sondern vor allem aus der innereuropäischen Migration. Und da ist Deutschland weiterhin ein absoluter Magnet. (Anmerkung aus OECD-Bericht: 2016 kamen etwa 280.000 Asylsuchende, aus den EU-Staaten, vor allem aus Osteuropa, waren es 634.000 Personen).
Aus welchen Ländern kommen die Menschen denn?
An erster Stelle kommen Rumänen, Polen und Bulgaren, aber natürlich auch Portugiesen, Spanier oder Italiener. Sie dürfen ja nicht vergessen, in diesen Ländern herrscht in Teilen eine Jugendarbeitslosigkeit von weit über 50 Prozent. Damit ist klar, diese Migration ist arbeitsmarktorientiert. Das heißt wiederum: Dieser Personenkreis integriert sich sehr gut und fällt damit auch nicht weiter auf. Doch sie sind zahlenmäßig wesentlich bedeutsamer als beispielsweise Asylbewerber.
Aber es heißt doch dauernd, wir würden von Asylbewerbern quasi überrannt. Liegt die Zahl der europäischen Arbeitsmigranten tatsächlich höher?
Richtig. Ein Großteil der internationalen Asylbewerberströme erreicht Deutschland überhaupt gar nicht erst, sondern landet in den EU-Staaten um uns herum. Im Ranking pro Kopf auf den Bevölkerungsanteil berechnet, liegt bei den Asylanträgen Griechenland auf Platz eins, dann kommen Luxemburg, Island, Österreich. Und dann erst Deutschland. Bei den anerkannten Flüchtlingen gibt es allerdings ein anderes Ranking: Schweden hat weltweit die meisten von ihnen aufgenommen, dahinter kommt dann Deutschland und auf Platz drei Österreich. Weltweit betrachtet kommt allerdings noch ein weiterer Fakt hinzu: Die Flüchtlinge, die überhaupt die OECD-Staaten und damit vor allen Dingen Europa erreichen, sind meist gut ausgebildet und entstammen mindestens der sozialen Mittelschicht. Das sind die, die überhaupt die Power haben, es bis hierher zu schaffen.
Wenn so viele Arbeitsmigranten kommen, wieso herrscht denn dann in Deutschland immer noch Fachkräftemangel?
Wichtig ist vor allem, dass sich bei den Mittelqualifizierten mehr tut, und da setzt Deutschland seit Jahren völlig verkehrt an. In Deutschland geht es vor allem um hohe Berufsabschlüsse, die einen Aufenthaltsstatus beschleunigen. Dabei wird aber überhaupt nicht auf die Sprachbefähigung geachtet.
Sprachkurse sind also wichtiger als Bildungsabschlüsse?
Genau das ist der Ansatz. Es muss viel mehr darauf geachtet werden, dass die Menschen, die zu uns kommen, die deutsche Sprache beherrschen. Das wollen die Unternehmen, und das bedeutet auch: schnelle Integration in Deutschland. Da muss der Gesetzgeber zukünftig verstärkt ansetzen. Wenn jemand minderqualifiziert ist, also keinen Hochschulabschluss hat, aber gut Deutsch kann, wird er tatsächlich schneller in seinem Job klarkommen und damit einfacher integriert werden.
Aber darüber diskutieren wir doch schon seit Jahren. So neu ist diese OECD-Erkenntnis nicht.
Nein, das ist sie beileibe nicht, aber schauen Sie sich das Zuwanderungsgesetz an: Gegenwärtig haben Sie keinen Vorteil, wenn Sie fließend Deutsch sprechen und schreiben können. Der Berufsabschluss ist entscheidend, da reicht dann auch Englisch. Unser OECD-Vorschlag lautet: Menschen, die besser Deutsch können, sollten ein vereinfachtes Verfahren bekommen. Das ist in fast allen anderen OECD-Staaten längst so geregelt.
Wenn Sie das längst auch in Deutschland einfordern: Hört Ihnen denn überhaupt jemand zu aus der Bundespolitik?
(lacht) Da bin ich mir nicht so sicher. Ich habe manchmal das Gefühl, nicht die Migrationsströme wachsen, sondern die Zahl der „Migrations-Experten".