FORUM-Autor Stephan Müller hat sich von Berlin aus auf dem Europaradweg R1 nach Boulogne-sur-Mer aufgemacht. Eine rund 1.100 Kilometer lange Reise mit dem Faltrad und der Bahn.
Das Schöne am Radurlaub ist, dass er direkt vor der Haustür beginnen kann. Und wenn einem kurz nach Sonnenaufgang die Radgötter wohlgestimmt sind, setzt das Urlaubsgefühl schon ein, bevor man seinen Kiez verlassen hat. Nach wenigen Kilometern haben die Beine ihre Trittfrequenz gefunden und das gleichmäßige, rhythmische Treten in der kühlen Morgenluft macht glücklich. Zugegeben, die Strecke von Berlin nach Frankreich, genauer gesagt nach Boulogne-sur-Mer an der französischen Atlantikküste ist kein Pappenstiel. Die Idee ist es, dem Europaradweg R1 (auch bekannt als Euroroute R1 oder Radweg R1) zu folgen. Ein imposanter Weg, der in seiner Gesamtlänge von Moskau über Berlin bis nach London heftige 5.117 Kilometer beträgt. Auch das hier gefahrene Teilstück von Berlin an die Atlantikküste ist eine Herausforderung von etwa 1.100 Kilometern.
Die Fahrt geht durch vier Länder
Die Fahrt geht durch vier Länder: Deutschland, die Niederlande, Belgien und Frankreich. Weil das auch für gut trainierte Radfahrer in den hier zur Verfügung stehenden neun Tagen kaum zu schaffen ist, sind Teilstrecken per Bahn eingeplant. Das geht dann recht einfach – wenn man mit dem Faltrad unterwegs ist. Denn zusammengeklappt braucht man für den Falter in Deutschland, den Niederlanden, in Belgien und in Frankreich – dort am besten das Faltrad in einer Tasche transportieren – keine Fahrradkarte und im deutschen ICE auch keine Stellplatzreservierung: Zugabschnitte können so spontan herausgesucht werden. Mit der Kombination Faltrad und Deutschlandticket kann man sich im deutschen Nah- und Regionalverkehr günstig fortbewegen. Hier gleich ein Tipp für die Grenzüberschreitung: In NRW kann man Bus- und Bahnverbindungen nach Holland nutzen, zum Beispiel in das auf der Route R1 liegende Arnheim. Wichtig ist, dass die Fahrt vom deutschen Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) durchgeführt wird. Ein landschaftliches Highlight des deutschen Teils der Strecke beginnt in Dessau, durch die beeindruckende Parklandschaft stadtauswärts. Nach acht Kilometern Richtung Westen kommt man nach Aken am Südufer der mittleren Elbe und radelt danach durch eine außergewöhnliche Auenlandschaft innerhalb des Biosphärenreservates Mittelelbe. Geboten sind malerische Naturszenerien und ein Radweg mit einem weitgehend gut befestigten Untergrund, der auch für ein 16-Zoll-Faltrad ohne zu viele Rückenschläge fahrbar ist. Folgt man dem R1 Radweg nach Westen, führt er über Köthen und Ballenstedt in das malerische Wernigerode in Sachsen-Anhalt. Die Altstadt ist bekannt für ihre Fachwerkhäuser und auch das Schloss Wernigerode mit einem wunderschönen Blick auf die Stadt ist einen Besuch wert.
Fahrradfans kommen an in Münster, der „Fahrradhauptstadt Deutschlands“, so genannt, weil sie mehrmals und auch im Jahr 2022 den Fahrradklimatest des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC) in der Kategorie in der Klasse über 200.000 Einwohner gewann. In Münster gibt es doppelt so viele Fahrräder wie Einwohner. Alle Sehenswürdigkeiten der Stadt sind bequem mit dem Fahrrad zu erreichen. Ganz praktisch für Radwanderer: Die Radstation am Hauptbahnhof bietet Werkstatt-Service und eine Fahrrad-Waschanlage. Bei jeder Radtour stellt sich vorher die Frage, wann und für wen sich eine Detailplanung lohnt. Bei Gruppen oder Fahrten mit Kindern ist eine Planung wichtiger und spart Kosten. Will man täglich fahren so weit die Beine tragen und sich abends spontan entscheiden, wo man übernachtet, ist das etwas teurer.
Eine echte Hilfe bei der Quartiersuche bietet die App „Bett+Bike“, herausgegeben vom ADFC. Die App zeigt Übernachtungsmöglichkeiten, deren Betreiber auf Radfahrer und ihre Bedürfnisse vorbereitet sind. Ein Nachteil: Bis zum Redaktionsschluss gab es die App nur für Android- nicht aber für iOS-Nutzer (iPhone). Zur Tourenplanung gehört auch die Navigation: GPS – Geräte für Radfahrer gibt es Dutzende am Markt, in jeder Preislage und Qualität. Besonders für Brillenträger bleibt das Problem, dass die Dinger bei Sonneneinstrahlung einfach nicht gut zu lesen sind. Natürlich kann man auch den bei vielen Geräten verfügbaren akustischen Richtungsangaben folgen. Richtig gut klappt das aber nur mit Ohrhörern. So viel Technik und eine ständige Bequatschung vermiesen – ganz subjektiv gesehen – den Spaß am Fahrradfahren und den Genuss der Landschaft.
Vorbei an berühmten Kreidefelsen
Eine Lowtech-Lösung ist die Orientierung am Europaradweg-Zeichen – in Deutschland ist der Radweg als „R1“ in grün auf weiß beschildert – und das Mitführen einer laminierten Übersichtskarte, die man schon für ein paar Euro im Netz kaufen kann. Der Radweg R1 ist auf der gesamten niederländischen Strecke vorbildlich ausgeschildert und auch deshalb macht in den Niederlanden, dem Land der Fahrradkultur, das Radfahren einfach immer Spaß. Obendrein ist die Landschaft abwechslungsreich, sei es der waldreiche Nationalpark Veluwezoom bei Arnheim oder die typisch niederländische Kanallandschaft bis Utrecht. Auf dem R1 ist die Küstenstrecke zwischen Den Haag und Hoek van Holland der Traum eines jeden Fahrradfahrers. Knapp 20 Kilometer geht es direkt an der Küste entlang, nur durch Dünen und Strand vom Wasser getrennt. Höhepunkt der Fahrt durch Belgien ist zweifelsohne die Unesco-Weltkulturerbestadt Brügge mit ihrem historischen Stadtkern. Der Europaradweg in Frankreich gibt sich eher ländlich – beschauliche Dörfer und kleine Städte mit sehenswerten Kirchen säumen den Weg.
Der R1 ist im Land der Tour de France sehr lückenhaft als „Route de la Mer du Nord (LF1)“ ausgeschildert. Er führt über schmale, wenig befahrene Nebenstraßen mit guter Qualität. Das Ziel dieser Radreise, die Atlantikküste Frankreichs, ist eine von Touristen oft links liegen gelassene Schönheit: Kilometerlange naturbelassene Küste, steil abfallende Klippen, darüber grau-rosa-blaue Wolken. Eine einzigartige Vegetation wiegt sich im Wind des Meeres und wird im Rhythmus der Wellen von der Gischt umspült. Das Licht, das alles einhüllt, ist opalfarben, daher auch der Name Opal-Küste. Fährt man von Boulogne-sur-Mer 23 Kilometer nordöstlich über die hügelige Landstraße, erreicht man die Bucht von Wissant – traumhafte zwölf Kilometer Sandstrand unterbrochen von kleinen Fischerdörfern. Ankerpunkte der Bucht sind die zwei Kaps, französisch Cap Gris-Nez und Cap Blanc-Nez. Vom Cap Gris-Nez, mit seinem berühmten Leuchtturm, kann man bei gutem Wetter die Kreidefelsen von Dover sehen. Auf dem Cap Blanc-Nez steht das Denkmal der Patrouille von Dover (Monument à la Patrouille de Douvres), das eine Hommage an die französischen und britischen Soldaten ist, die die Straße von Calais während des Ersten Weltkriegs sicherten. Für das europäische Festland endet der Radweg R1 in Boulogne-sur-Mer oder – je nach Sichtweise 38 Kilometer nordwestlich in Calais. Wer wirklich weiterradeln will, macht die Überfahrt von Calais ins etwa 34 Kilometer entfernte Dover mit einer der stündlich verkehrenden Kanalfähren. Von der englischen Küstenstadt sind es per Rad nur noch schlappe 194 Kilometer nach London.