Nach den Nullerjahren, in denen Protagonistinnen wie Sienna Miller oder Kate Moss den von der Hippie-Mode abgeleiteten Look geprägt hatten, ist der Boho Chic in diesem Sommer in innovativer Variante wieder auf die Laufstege zurückgekehrt.
Gar nicht so einfach, eine einleuchtende Erklärung dafür zu finden, wenn völlig unerwartet ein Trend mit reichlich Nostalgie-Touch auf den Catwalks wieder aufgetaucht ist. So geschehen für die aktuelle Sommersaison in Gestalt des Boho Chic, der in den 60er und 70er-Jahren als Hippie-Look besser bekannt gewesen war und der in den Nullerjahren zuletzt ein großes Comeback erlebt hatte – dank Vorreiterinnen wie Sienna Miller, Kate Moss oder Mary-Kate Olsen, die den Style mit grungigen, rockigen oder aus der Goth-Szene abgeleiteten Elementen erneuert hatten.
Die diversen Deutungsansätze für das Boho-Revival wirken allesamt recht hilflos und letztendlich wenig überzeugend. Die neue Reiselust nach Zeiten der Corona-Einschränkungen, Stichwort „Boho-Nomaden" in lässig-bequem, weit geschnittenen Klamotten, ist ein eher schwaches Argument. Die etwas nebulöse Sehnsucht nach Freiheit wirkt als Erklärungsversuch ebenso weit hergeholt wie die vermeintliche Flucht – mithilfe der Mode – aus den aktuellen weltweiten Krisensituationen in sorglosere Zeiten. Als der Hippie-Look nicht in erster Linie ein Fashion-Statement war, sondern vor allem Ausdruck eines unangepassten, gegen soziale Zwänge und Einschränkungen rebellierenden Lebensgefühls, samt Flower Power, Love and Peace.
Ausdruck eines Lebensgefühls
Damit dürfte heute kaum noch eine Frau etwas am Hut haben. So gesehen wird man das Ganze am besten einfach als normalen Retro-Trend bezeichnen können, weil einige renommierte Designer bei ihren Archiv-Stöbereien mal wieder auf die interessanten 1960er- und 1970er-Jahre gestoßen waren und sich eher nicht um die Abwandlungen des Boho-Looks aus den Nullerjahren gekümmert hatten.
Sie fanden dabei jede Menge Inspirationen: nicht nur für ihre aktuellen Fashion-Kreationen, sondern auch für die Frisuren ihrer Models oder auch für das Entwerfen diverser Accessoires, denen in der Hippie-Kultur – in Gestalt von Medaillon-Halsketten, breiten Stirn- oder Armbändern, riesigen Ohrringen, dünnkrempigen Hüten, Mary Jane-Pumps (schöne Modelle von Christian Dior, Chanel oder Miu Miu), flachen Sandalen oder Peace-Ringen – ein hoher symbolischer Stellenwert beigemessen wurde. Die Haare mancher Models wurden zu voluminösen Beehive-Frisuren gestylt, die wie ein Bienenstock auf den Köpfen ruhten, beispielsweise bei Moschino.
Auch der Bottleneck-Pony, eine weitere It-Frisur der Sixties mit eingedreht wirkenden Bangs, war auf den Laufstegen für den Sommer 2022 neben Flechtfrisuren wieder zu sehen gewesen, beispielsweise bei Roberto Cavalli oder Valentino. Bezüglich der Klamotten wurden so ziemlich alle Basics der Hippie-Mode – generell durch weite, fließende Schnitte, natürliche Farben und Materialien wie Seide, Leinen, Samt oder Leder, Einsatz von handwerklichen Herstellungstechniken, auffälligen Prints wie Tye Die, Blumenmuster oder Paisley, Patchwork- und Perlen-Elemente oder Fransen charakterisiert – wieder ausgekramt: wallende Maxiröcke oder -kleider, kurze Minis, luftige Oversize-Pieces, Blusen mit floralem Muster oder Batik-Print, häufig mit Puff- oder Ballonärmeln aufwartend, bestickte Westen, Kimonos, Kaftans, weite Hosen, Schlaghosen, Jeansshorts und Strick in allen möglichen Varianten.
Prairie-Prints auf locker fließenden Kleidern
Für „Harper’s Bazaar" ist speziell der Häkelstrick das zentrale Thema des aktuellen Boho-Trends. In der Hippie-Kultur hatten sich die aufmüpfigen Damen den Häkelstoffen, die von ihrer Elterngeneration allenfalls für Tischdecken oder Topflappen genutzt wurden, angenommen, um daraus im Zuge der sexuellen Befreiung beispielsweise damals als skandalös empfundenen Häkel-Bikinis herzustellen. Schon vergangenes Jahr hatten Labels wie Bottega Veneta, Dior oder Valentino erste gehäkelte Kleider, Röcke oder Taschen in ihren Kollektionen geführt. Diesen Sommer gibt es Häkelkleider beispielsweise von Alberta Ferretti, Etro oder Anna Kosturova, gehäkelte Hosen oder Shorts (ebenfalls wieder von Alberta Ferretti oder Etro), ganze Häkel-Ensembles samt passendem Crop-Top von A. Roege, Erdem oder Acne, Crochet-Oberteile von Acne oder Alberta Ferretti, Häkel-Taschen von Chloé oder Etro sowie gehäkelte Bucket Hats von Anna Sui oder Arket. Die „Vogue" hingegen hat die Aufmerksamkeit ihrer Leserinnen und Leser eher auf die wallenden Maxikleider von Marken wie Zimmermann, Ulla Johnson, Alberta Ferretti oder Isabel Marant gelenkt.
Bei einigen Labels bildete der Boho Chic den Mittelpunkt der gesamten Sommerkollektion. Bei Altuzarra beispielsweise drehte sich alles um Batik. Es gab Tie Dye auf Wickeltops, Maxikleidern und Röcken, dazu jede Menge Häkelstrick. Auch bei Chloé war blaues Tie Dye auf einer Tunika zu sehen, ein Trenchcoat wurde mit einem auffälligen Fransensaum aufgehübscht, ein weißes halbtransparentes Maxikleid samt Opal-Kette ähnelte einem marrokanischen Kaftan. Bei Givenchy wurde der Boho-Look durch kunstvollen Strick – teils mit Fransen aufgehübscht – bestimmt. Besonders ungewöhnlich kam bei dieser Kollektion die Interpretation des Boho-Stils in Kombination mit einer transparent-paillettenbesetzten Hose. Emilio Pucci setzte den Boho Chic mit Prairie-Prints auf locker fließenden Kleidern um. Bei Anna Sui konnten knallbunte Oberteile oder geblümte Westen bewundert werden. Bei Etro gab es gewohnt viel Paisley zu sehen, daneben Patchwork sowie Flower-Power-Applikationen auf Kleidern und Radlerhosen. Paco Rabanne konzentrierte sich auf Häkelstrick, teilweise in Komplett-Looks, setzte, aber auch auf Fransen oder Perlen und brachte schließlich auch noch Bandanas ins Spiel. Bunte Farbverläufe kennzeichneten die Strickkreationen von Gabriela Hearst. Molly Goddard konnte den Nachweis erbringen, dass sich auch Tüll bestens in Boheme-Manier umsetzen lässt und dem Look eine unverkennbare Leichtigkeit verleiht.