Die Motivation fürs Impfen wird komplizierter, die Akzeptanz in der Bevölkerung nimmt ab. Bundesgesundheitsminister Lauterbach zeigt sich in Anbetracht dieser Entwicklung mehr als nachdenklich, und er räumt Fehler ein.
Bilder sprechen mehr als Worte. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach begrüßt den Präsidenten des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, Ende September im Vorfeld einer gemeinsamen Pressekonferenz betont herzlich. Fotografen sind allerdings nicht zugelassen. Offensichtlich befürchten beide, dass diese neue Nähe vom Bundesminister zum Amtschef öffentlich dokumentiert werden könnte. Es geht den beiden Kontrahenten wie immer um die Deutungshoheit in Sachen Corona-Maßnahmen und vor allem viel Ego.
Lauterbach und Wieler wurde in den letzten Monaten eine herzliche Antipathie nachgesagt und dadurch befeuert, dass Lothar Wieler bei Pressekonferenzen mit seinem vorgesetzten Minister immer wieder fehlte. Ausschlaggebend für dieses Zerwürfnis die Alleingänge Lauterbachs, heißt es im Robert-Koch-Institut hinter vorgehaltener Hand. Zum Beispiel die Abstufung des Johnson & Johnson-Impfstoffes Anfang des Jahres. Von einem Tag auf den anderen verloren Millionen „Vollgimpfte" ihren Status. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach wollte davon nichts gewusst haben und machte den RKI-Chef dafür verantwortlich. Wieler dagegen will nur auf Anweisung des Bundesgesundheitsministeriums gehandelt haben. Keine wirklich vertrauensbildende Maßnahme gegenüber der damals schon reichlich verunsicherten Bevölkerung gerade beim hochsensiblen Thema Impfen.
Trotz alledem ist die Kampagne im ersten Anlauf ein Erfolg geworden. Über 76 Prozent der Bevölkerung sind vollständig geimpft, also zwei Mal plus Booster. Beinahe unbemerkt der medialen Öffentlichkeit hat nun allerdings ein Paradigmenwechsel in den Forderungen zu den anstehenden Corona-Maßnahmen in diesem Herbst stattgefunden. Im ersten Corona-Winter, damals noch ohne Ministerposten, lag Karl Lauterbach in seinen Ansprüchen zum allumfassenden Schutz immer weit vor dem, was RKI-Chef Lothar Wieler auf der Liste hatte.
Doch nun die wundersame Wandlung, der Hardliner Lauterbach wird bei den geforderten Corona-Maßnahmen zurückhaltender und fällt in Sachen Impf-Stringenz hinter seinen, mittlerweile ihm unterstellen, Amtsleiter Wieler zurück. Politische Momentaufnahmen vor dem dritten Corona-Winter im Berliner Regierungsviertel, die auf eine gewisse Unschlüssigkeit bei dem maßgeblich agierenden Gesundheitspolitiker hindeuten. In der Bundespressekonferenz Ende September zum modifizierten Infektionsschutzgesetz fehlen zwei wegweisende Wörter, die in den letzten 48 Monaten alle Maßnahmen zu rechtfertigen schienen: Inzidenz- und Hospitalisierungswert. Gesundheitsminister Lauterbach hat diesen gerade für die Länder bei ihren Entscheidungen für weitere Corona-Maßnahmen wichtigen Richtwert ersatzlos aus dem angepassten Infektionsschutzgesetz Ende September streichen lassen.
Doch das Robert Koch-Institut, unter Wielers Leitung, veröffentlicht zumindest den Inzidenzwert jeder Woche weiterhin. Die Gesundheitsministerien in den Ländern können damit nur noch wenig anfangen. Denn von Hospitalisierungswerten, also der Belegung der Betten in den Kliniken, ist überhaupt nichts mehr zu hören. Damit haben nicht nur die Gesundheitsminister in den Ländern, sondern auch die Klinikchefs bundesweit eigentlich überhaupt keinen Kompass mehr, worauf sich die gesundheitlichen Nothelfer der Nation einstellen müssen. Lauterbach äußert sich neuerdings auch bei der Impfkampagne zum zweiten Booster, sprich der vierten Impfung, in diesem Herbst eher weichgespült. Noch im August forderte er dringend zu einer Impfung auch der unter 60-Jährigen auf, gegen den erklärten Willen der ständigen Impfkommission unter Präsident Thomas Mertens. Doch auch davon ist von Lauterbach nichts mehr zu hören. Stattdessen überdenkt er nun öffentlich die bisherigen Corona-Maßnahmen mit erheblichen wirtschaftlichen Folgen.
Über 76 Prozent der Bevölkerung sind bereits vollständig geimpft
Es wird derzeit weniger geimpft, dafür mehr weggeworfen. Bereits im Hochsommer mussten vier Millionen Impfdosen wegen Verfalls vernichtet werden. Daraufhin machte sich das Bundesgesundheitsministerium weltweit auf die Suche nach Abnehmern. Weitere fast fünf Millionen, vom Ablauf der Haltbarkeit bedrohte Impfdosen aus deutschen Bundes-Impf-Kühlschränken sollten verschenkt werden. Die Nachfrage war mehr als überschaubar und Ende September landeten erneut weitere 4,6 Millionen Impfdosen im Müll. Wenig hilfreich für die Impfkampagne zur zweiten Boosterung gerade der vulnerablen Gruppen.
Bundesgesundheitsminister Lauterbach selbst mahnte öffentlich an, dass eine vierte Impfung eventuell erst dann Sinn macht, wenn der neue Impfstoff für die Corona-Variante BA.4 und BA.5 da ist. Dann war der neue Impfstoff da. Wenige Tage nach Bereitstellung stellte Bundesgesundheitsminister Lauterbach verwundert fest, dass es, bei den ohnehin immer weniger werdenden Impfwilligen, Akzeptanzprobleme mit dem alten Impfstoff für die BA.1-Variante gibt. Derzeit sind noch weit über 20 Millionen Impfdosen verfügbar, ein Fehlkauf, den Lauterbach selber politisch nicht zu verantworten hat, sondern sein Vorgänger Jens Spahn (CDU). Die Steuerzahler wird das weitere Hunderte Millionen Euro, vermutlich Milliarden kosten.
Das ganze Impf-Durcheinander bringt auch die Präsidentin des Deutschen Pflegerats, Christine Vogler, auf die Palme. „Die einrichtungsbezogene Impfpflicht – ja, auf jeden Fall für alle Beschäftigten in der Pflege. Doch darum geht es dem deutschen Pflegerat überhaupt nicht. Was uns sauer macht, in der Pflege gilt Impfen und Maske, und der Rest der Bevölkerung macht sich einen schlanken Fuß. Was bei uns gilt ist sonst überall egal", zeigt sich Christine Vogler sichtlich angefressen, und auch sie lässt Lauterbach nicht ungeschoren davonkommen. „Da wird die gesamte Impfkampagne, die alle betrifft, jetzt bei uns abgeladen. Wir haben der Impfpflicht in der Pflege im Vorfeld zugestimmt, weil diese im gesetzgeberischen Verfahren für alle gelten sollte, jetzt sind wir allein dafür verantwortlich. Darum ist zum 1. Januar mit unserer Zustimmung zur Impfpflicht in der Pflege Schluss. Entweder alle oder keiner". Ein Paukenschlag des Deutschen Pflegerates.
Weitere Hand an das Standbein zur Bereitschaft zur zweiten Boosterung legte dann wieder Gesundheitsminister Lauterbach selbst an, indem er das Corona-Präparat Paxlovid von Pfizer empfahl, nachdem dieses von der EU-Arzneimittelbhörde EMA zugelassen wurde. Nicht ganz zu Unrecht fragen sich Millionen dreifach Geimpfte, warum eine vierte Impfung, wenn ich die Folgen einer Corona-Infektion auch mit Paxlovid erfolgreich bekämpfen kann. Das beste Beispiel für diese Annahme lieferte dann ungewollt Bundeskanzler Olaf Scholz selbst. Dreifach geimpft, infizierte sich Scholz auf seinen Staatsbesuchen durch die Staaten am Arabischen Golf. Genüsslich verwies Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) in einer Pressekonferenz darauf, dass auch der Kanzler erfolgreich mit dem neuen Medikament behandelt wurde. Buschmann ist bezüglich des Impfens ein weiterer politischer Gegenspieler Lauterbachs. Doch in Anbetracht dieser gegeneinander laufenden Gemengelage, wird auch Bundesgesundheitsminister Lauterbach keine erfolgreiche vierte Impfkampagne auf den Weg bringen, es sei denn, die Bevölkerung erkennt von allein die Notwendigkeit.