Was genau ist ein Trauma? Und unter welchen Symptomen leiden Menschen mit Posttraumatischer Belastungsstörung? Diese Fragen und viele mehr beantwortet Trauma-Therapeutin Prof. Dr. Meike Müller-Engelmann im Interview mit FORUM.
Frau Prof. Dr. Müller-Engelmann, welche Erlebnisse können eine Posttraumatische Belastungsstörung (kurz: PTBS) auslösen?
Eine Posttraumatische Belastungsstörung kann durch unterschiedliche Ereignisse ausgelöst werden. Prinzipiell wird unterschieden zwischen interpersonellen Traumata, die von Menschen verursacht sind, und akzidentiellen Traumata. Zu den interpersonellen Traumata gehören sexuelle Übergriffe, zum Beispiel Vergewaltigungen, Überfälle oder andere Arten körperlicher Gewalt. Besonders schwerwiegend sind in diesem Zusammenhang sexuelle oder körperliche Gewalterfahrungen in der Kindheit, die meist über eine längere Zeit andauern. Zu den interpersonellen Traumatisierungen zählen darüber hinaus Kriegserlebnisse, Gefangenschaft und Folter. Hiervon abzugrenzen sind akzidentielle Traumata wie Verkehrsunfälle, Brände und Naturkatastrophen, zum Beispiel Erdbeben und Überschwemmungen.
Was genau sind Traumata?
Laut dem ICD-11, dem diagnostischen System der Weltgesundheitsorganisation, das zu Beginn dieses Jahres in Kraft getreten ist, handelt es sich bei einem Trauma um ein extrem bedrohliches oder katastrophales Ereignis. Im diagnostischen System der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung, dem DSM-5, wird dies konkreter definiert als eine Konfrontation mit Tod, Lebensbedrohung oder sexueller Gewalt. Dabei kann die Person das Ereignis selbst erlebt haben, Zeuge geworden sein, wie eine solches Ereignis einer anderen Person passiert ist, oder davon erfahren haben, dass eine nahestehende Person Opfer eines solchen Ereignisses geworden ist.
Können bei empfindlichen Menschen zum Beispiel auch Trennungen zu PTBS führen?
Auch Trennungen können sehr belastend sein und zu starken psychischen Reaktionen bis hin zu klinisch relevanten Symptomen führen. Zu beachten ist jedoch, dass sie die Definition eines traumatischen Ereignisses der geltenden diagnostischen Systeme nicht erfüllen und somit auch nicht zu einer PTBS führen können. Diese setzt ein entsprechendes traumatisches Erlebnis voraus. Wenn psychische Belastungen nach einer Trennung bestehen, die noch nicht länger als ein halbes Jahr zurückliegt, wird in der Regel eine Anpassungsstörung diagnostiziert. Typischerweise geht diese mit depressiven Symptomen wie zum Beispiel starker Traurigkeit oder einem verminderten Interesse an Dingen einher, die der Person zuvor Freude gemacht haben. Es können aber auch Ängste und andere starke Gefühle wie zum Beispiel Wut und Ärger im Vordergrund stehen.
Haben alle Menschen ein gleich hohes Risiko, eine PTBS nach Traumata zu entwickeln, oder ist dieses bei einigen höher?
Prinzipiell haben Frauen verglichen mit Männern ein fast doppelt so hohes Risiko, an einer PTBS zu erkranken. Das Risiko, eine PTBS zu entwickeln, sinkt mit steigendem Lebensalter: Je jünger eine Person bei einem traumatischen Erlebnis ist und je eher dieses somit in eine vulnerable Entwicklungsphase fällt, desto höher ist das Risiko, eine PTBS zu entwickeln. Darüber hinaus hängt die Wahrscheinlichkeit, eine PTBS zu entwickeln, von der Art des erlebten Traumas ab und ist nach interpersonellen Gewalterfahrungen und insbesondere bei sexueller Gewalt besonders hoch. Ein weiterer Faktor ist die Unterstützung, die Betroffene durch ihr Umfeld und insbesondere durch nahe Bezugspersonen nach dem traumatischen Erlebnis erfahren. So beeinflussen negative Reaktionen durch andere, zum Beispiel wenn Betroffenen nach einer Vergewaltigung nicht geglaubt wird oder sie für das Erlebte abgewertet werden, den Verlauf ungünstig. Zu erwähnen sind auch interkulturelle Unterschiede. So ist etwa die Wahrscheinlichkeit, ein traumatisches Ereignis zu erleben und damit auch eine PTBS zu entwickeln, in den USA aufgrund der dortigen Waffengesetze deutlich höher als in Deutschland.
Welche Symptome haben Betroffene bei einer PTBS?
Zu den Symptomen gehört, dass die Betroffenen das Ereignis auf irgendeine Art und Weise wieder erleben und ungewollte Erinnerungen an das Ereignis haben. Diese Erinnerungen können beispielsweise in Form von Gedanken, Bildern oder Albträumen auftreten und erscheinen den Betroffenen meist sehr lebendig. Häufig sind sie auch mit körperlichen Reaktionen (zum Beispiel Schwitzen, Zittern, Herzklopfen) verbunden. In den meisten Fällen werden traumabezogene Erinnerungen durch Hinweisreize – sogenannte Trigger – ausgelöst, die mit dem Trauma in Zusammenhang stehen, zum Beispiel bestimmte Geräusche oder Gerüche.
Zu den Symptomen der PTBS gehören darüber hinaus starke negative Überzeugungen in Bezug auf sich selbst, andere Menschen oder die Welt. So denken viele Betroffene, dass sie niemandem vertrauen können und die Welt prinzipiell ein gefährlicher Ort ist. Weiterhin leiden viele Betroffene unter anhaltenden negativen Gefühlen wie Angst, Wut oder Scham- und Schuldgefühlen. Letztere sind damit verbunden, dass sich Betroffene häufig die Schuld für das traumatische Ereignis und dessen Folgen geben und zum Beispiel denken, dass sie sich stärker hätten wehren müssen oder weglaufen sollen. Hinzu kommen Schwierigkeiten, positive Gefühle wie Freude, Glück oder Zufriedenheit zu empfinden.
Gibt es noch weitere?
Eine PTBS ist außerdem durch körperliche Anspannung und Übererregung gekennzeichnet, die mit einem erhöhten Aktivierungsniveau des autonomen Nervensystems in Zusammenhang steht. Das bedeutet, dass der Körper in einer Art Alarmbereitschaft ist, so als könnte das Trauma jederzeit wieder geschehen, was zu einer erhöhten Schreckhaftigkeit führt. Mit der körperlichen Übererregung in Verbindung stehen häufig Schlafstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten, aber auch Reizbarkeit und wiederkehrende Wutausbrüche können eine Folge sein.
Aufgrund der mit den Symptomen verbundenen starken Belastung zeigen Betroffene in der Regel ein starkes Vermeidungsverhalten. Sie versuchen, belastende Erinnerungen, Gefühle oder Gedanken an das Trauma wegzuschieben oder sich abzulenken. Auch werden häufig Orte, Aktivitäten oder Menschen, die an das Trauma erinnern, gemieden.
Neben dem psychischen Leid kommt es infolge einer PTBS und der damit verbundenen erhöhten körperlichen Erregung und geschwächten Immunabwehr bei unbehandelten chronischen Verläufen häufig auch zu körperlichen Erkrankungen wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und chronischen Schmerzen.
Wie viele Menschen sind in etwa betroffen?
Bei einer im Jahr 2017 von der Weltgesundheitsorganisation durchgeführten Befragung gaben 70,4 Prozent der Befragten an, im Laufe ihres Lebens mindestens ein traumatisches Ereignis erlebt zu haben. Das Risiko, eine PTBS zu entwickeln, lag bei denjenigen, die ein traumatisches Ereignis erlebt hatten, bei vier Prozent. In Deutschland waren die Zahlen bei ähnlichen Befragungen niedriger. So ergab eine 2008 durchgeführte Befragung, dass circa 20 bis 30 Prozent der Deutschen mindestens ein traumatisches Ereignis erleben und zwölf Prozent davon eine PTBS entwickeln.
Man unterscheidet zwischen Posttraumatischer Belastungsstörung und komplexer Posttraumatischer Belastungsstörung. Was sind hier die Unterschiede?
Eine komplexe Posttraumatische Belastungsstörung entwickelt sich meist nach langanhaltenden oder sich wiederholenden traumatischen Ereignissen, denen man nur schwer oder gar nicht entkommen konnte, wie zum Beispiel einem sexuellen Missbrauch in der Kindheit durch eine nahe Bezugsperson. Die komplexe PTBS ist als Störungsbild neu in die ICD-11 aufgenommen worden. Damit man von einer komplexen PTBS sprechen kann, müssen die drei Kernsymptombereiche der PTBS, also „Wiedererleben“, „Vermeidung“ und „Übererregung“ erfüllt sein. Darüber hinaus ist die komplexe PTBS mit drei weiteren zusätzlichen Symptombereichen verbunden. Betroffene leiden unter Schwierigkeiten in der Affektregulation, was sich beispielsweise in selbstverletzendem Verhalten äußern kann. Darüber hinaus halten sie sich selbst für minderwertig und wertlos und haben große Schwierigkeiten, sich anderen Personen nahe zu fühlen und zwischenmenschliche Beziehungen aufrechtzuhalten.
Forscher vermuten, die komplexe PTBS und die Borderline-Persönlichkeitsstörung könnten dasselbe Krankheitsbild sein, das sich lediglich unterschiedlich äußert. Warum? Und worin liegen die Unterschiede?
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung und die komplexe PTBS haben im Hinblick auf die damit verbundenen Symptome viele Gemeinsamkeiten. So leiden Patienten und Patientinnen beider Störungsbilder beispielsweise unter Schwierigkeiten der Emotionsregulation, einem negativen Selbstbild und Problemen in zwischenmenschlichen Beziehungen. Epidemiologische Studien weisen darüber hinaus darauf hin, dass etwa ein Drittel der Patienten und Patientinnen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung auch die diagnostischen Kriterien der PTBS erfüllt. Ein fundamentaler Unterschied zwischen den beiden Störungsbildern besteht jedoch darin, dass die komplexe PTBS als Traumafolgestörung definiert ist und sie somit ein traumatisches Erlebnis voraussetzt, was auf die Borderline-Persönlichkeitsstörung nicht zutrifft. In der klinischen Praxis zeigt sich jedoch, dass auch viele Patienten und Patientinnen mit einer Borderline-Störung belastende Kindheitserfahrungen gemacht haben. Diese Erfahrungen erfüllen jedoch nicht zwangsläufig die Kriterien eines traumatischen Ereignisses, wie es die diagnostischen Systeme definieren, sondern es kann sich dabei auch um massive Abwertungen und emotionale Gewalt handeln, was letztlich die Frage aufwirft, ob die Borderline-Störung perspektivisch nicht auch als stressbedingte psychische Störung konzeptualisiert werden sollte.
Mit welchen Themen beschäftigt sich die Forschung in den letzten Jahren? Gibt es hier neue Erkenntnisse?
Aktuelle Forschungsansätze gehen der Frage der differentiellen Indikation nach, also der Frage, welches der bestehenden Behandlungsverfahren für wen am besten geeignet ist. In diesem Kontext zeichnet sich ab, dass es von zentraler Wichtigkeit ist, die Behandlungspräferenzen des Patienten oder der Patientin zu berücksichtigen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie sich die Versorgung traumatisierter Patienten und Patientinnen, die häufig über ein halbes Jahr auf einen traumafokussierten Behandlungsplatz warten müssen, verbessern lässt. In diesem Zusammenhang werden Gruppentherapien und online-basierte Angebote im Hinblick auf ihre Wirksamkeit untersucht. Außerdem ist es notwendig, kürzere, wirksame und leicht erlernbare Behandlungsverfahren zu entwickeln. Als vielversprechend erwies sich das Imagery Rescripting, bei dem es darum geht, den Verlauf des traumatischen Erlebnisses in der Fantasie zu verändern und hierdurch dessen emotionale Bedeutung zu modifizieren. Weitere Herausforderungen ergeben sich aus der schlechteren Wirksamkeit der gängigen Behandlungsverfahren für Patienten und Patientinnen mit einer komplexen PTBS, die es erforderlich macht, neue, für diese Gruppe geeignete Behandlungsverfahren zu entwickeln und bezüglich ihrer Wirksamkeit zu untersuchen.