Vor 75 Jahren wurden 120.000 japanischstämmige Amerikaner ohne Anklage in Gefangenenlager deportiert. Zeitzeugen kämpfen dafür, dass unter US-Präsident Trump nicht noch einmal Minderheiten unter Generalverdacht gestellt werden.
Der Film läuft noch keine fünf Minuten, da weinen die ersten Zuschauer schon in ihre Taschentücher. Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus den 1940er-Jahren huschen über die Leinwand: eine Schulklasse vor der amerikanischen Flagge. Ältere Herren. Junge Mütter. Eine Gruppe Baseballspieler. Schließlich ein Tanzabend, bei dem ein beliebter Westernsong läuft: "Dont Fence Me In". Sperr mich nicht ein.
Für sich betrachtet, haben die Bilder nichts Verstörendes. Sie zeigen keine Gewalt, kein Blut. Dennoch dokumentieren sie ein Verbrechen, über das in der amerikanischen Gesellschaft bis heute kaum gesprochen wird: die Massen-Inhaftierung der japanischstämmigen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg. Vor diesem Hintergrund wirken die scheinbar harmlosen Szenen plötzlich ganz anders. Die Schulkinder geloben der amerikanischen Verfassung die Treue, während nebenan die Soldaten patrouillieren. Die Baseball-Mannschaft darf nur zum Heimspiel antreten, weil hinter dem Spielfeld der Stacheldrahtzaun beginnt. Der Westernsong: wahrhaftig beliebt, aber bitterlich zweideutig für diejenigen, die zu ihm tanzen.
Die Zuschauer, die an diesem Tag im Kino sitzen, kennen solche Szenen nicht nur aus dem Geschichtsbuch. Sie haben die Executive Order 9066 selbst miterlebt, jenen Präsidenten-Erlass, den Franklin D. Roosevelt am 19. Februar 1942 unterzeichnete. Er machte den Weg frei für die größte Verhaftungswelle in der amerikanischen Geschichte. Etwa 120.000 japanischstämmige Amerikaner wurden in Gefangenenlager deportiert. Ohne Anklage. Ohne Prozess. Drei Monate zuvor hatten japanische Kampfflieger den US-Stützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii bombardiert und damit nicht nur den Kriegseintritt der USA eingeläutet, sondern eine regelrechte Hysterie an der Heimatfront. Die in den USA lebenden japanischen Einwanderer standen fortan unter Generalverdacht selbst die mit amerikanischem Pass. "Man kann einen Japs nicht von einem anderen unterscheiden", hetzte der für die Lager zuständige US-General John DeWitt. "Sie sehen einfach alle gleich aus."
Gepäck fürs Lager: ein Koffer pro Person
Im 9. Mai 1942 begann die Deportation von der Regierung als "Evakuierung" beschönigt. Kishimura Faye war damals neun Jahre alt. Die heute 84-Jährige lebte mit ihren Eltern, ihrem Bruder und ihren sieben Schwestern im kalifornischen San José, als Executive Order 9066 in Kraft trat. Innerhalb einer Woche musste die Familie ihr gesamtes Hab und Gut verkaufen. Die Möbel. Den Kühlschrank. Das Auto. Sogar das geliebte Radio. Mitnehmen durften sie nur einen Koffer pro Person eine Schmach, die all jenen, die so aussahen wie sie, zuteil wurde. Die "Japs", so der verächtliche Ausdruck, wurden zu Gefangenen im eigenen Land.
Lange hat Kishimura Faye versucht, ihre Kindheitserlebnisse zu vergessen. So wie auch ihr Land dieses Kapitel der amerikanischen Geschichte am liebsten verdrängen möchte. Doch jetzt, 75 Jahre später, sitzt sie zum ersten Mal im Filmraum des "Manzanar War Relocation Center" in Kalifornien. Zusammen mit einem Dutzend anderer Zeitzeugen und einer Packung Taschentücher tastet sie sich vorsichtig in die Vergangenheit zurück. Obwohl sie selbst nicht in Manzanar, sondern im weit entfernten Wyoming interniert war, bringt allein schon der Film die Erinnerungen wieder an die Oberfläche. Die Wachtürme. Die Scham. Das Gefühl, nie wirklich alleine zu sein in den engen Holzbaracken.
Ihr erster Gedanke? "Der Schnee." Den hatte die junge Kalifornierin, die in Sonne und Wärme aufgewachsen war, noch nie gesehen. "Wir waren ja Kinder", sagt Faye. "Plötzlich hatten wir dieses extreme Wetter und konnten ständig im Schnee spielen." Was genau um sie herum geschah, verstand das Mädchen damals noch nicht. Dass sich ihr Leben gründlich verändert hatte, war aber auch der Neunjährigen klar und das, obwohl die Kinder auch im Camp ganz normal zur Schule gingen. Welch eine Ironie: Die jungen Staatsbürger lernten die amerikanische Verfassung kennen, erfuhren von Freiheit, Glück und Gerechtigkeit. Nach Schulschluss kehrten sie zu ihren Eltern in die Barracken zurück.
Dass Kishimura Faye heute durch Manzanar laufen kann, war lange Zeit keine Selbstverständlichkeit. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verschwanden die Lager so schnell, wie sie gekommen waren. Die Stacheldrahtzäune wurden abgerissen, die Gefangenen mit einer Busfahrkarte nach Hause geschickt. Auch wenn dieses Zuhause in vielen Fällen längst nicht mehr existierte. In Manzanar wiederum eroberten Schnee, Geröll, Sand und Staub das Gelände zurück. Das Unrecht, das drei Jahre lang am Fuße der Sierra Nevada geschehen war, schien vergessen.
Erst Ende der 1960er Jahre regte sich Widerstand. Die Kinder und Enkel der Opfer fingen an, Fragen zu stellen. Wie war das Leben im Camp? Was ist mit euren Ersparnissen passiert? Wir konntet ihr danach einfach so weitermachen? Weil Antworten ausblieben, stiegen die Aktivisten des neu gegründeten "Manzanar Committee" selbst in ihre Autos, um den Ort des Geschehens zu besuchen. Sie unternahmen ihre erste Zeitreise im Dezember 1969. "Als sie aus ihren Autos stiegen, verschaffte ihnen die bittere Kälte und der beißende Wind einen ersten Eindruck davon, wie das Leben für die Gefangen gewesen sein muss", heißt es auf der Website der Organisation, die bis heute existiert.
Es gab eine eigene interne Polizei
Außer einigen mit Schrot-Munition zerschossenen Grabmälern erinnerte nicht mehr viel an das Lager. Es sollte noch lange dauern, bis die Aktivisten mit ihrer Forderung nach einer Gedenkstätte bei Politikern durchdrangen. Gestritten wurde dabei über fast alles, selbst über Formulierungen. So durfte der Begriff "Rassismus" auf dem ersten Gedenkstein noch nicht vorkommen. Man sprach lieber von der "wirtschaftlichen Ausbeutung" der japanischstämmigen Bevölkerung. Erst 1992 wurde Manzanar der höchste Schutzstatus als "National Historic Site" zuerkannt. Vier Jahre zuvor hatte US-Präsident Ronald Reagan ein Gesetz unterzeichnet, das Betroffenen eine Entschädigung von 20.000 Dollar zugestand. Eine späte Genugtuung.
All das ist gut dokumentiert, in Büchern und im Internet nachlesbar. Auf den Seiten der Nationalparkverwaltung gibt es zu Manzanar eine eigene Rubrik. Die Bibliothek des US-Kongresses hat einen Leitfaden veröffentlicht, wie Lehrer mit dem sensiblen Thema umgehen sollen. Doch so richtig greifbar wird das Camp erst, wenn man selbst einmal den drei Meilen langen Rundweg in Manzanar abläuft. Viel ist nicht erhalten. Ein Wachturm wurde wieder aufgebaut, ebenso eine alte Baracke. Auch das Eingangsschild zum "War Relocation Center" hängt wieder. Aber allein die schiere Größe der Anlage! Bis zu 10.000 Menschen wurden hier gegen ihren Willen festgehalten. Es gab eine eigene interne Polizei, einen japanischen Garten und den immer noch existenten Friedhof.
Das Besucherzentrum, in dem auch der Film gezeigt wird, arbeitet das Lagerleben auf. Es geht um undichte Dächer, Regierungsspitzel und einen Aufstand, bei dem zwei Jugendliche im Kugelhagel der überforderten Soldaten sterben. Doch auch das vermeintlich Banale steht im Mittelpunkt. Der Spielzeug-Verleih für Kinder. Die Tanzabende. Die improvisierten Möbel, die sich die Gefangenen in ihren Unterkünften bauten. Ein Konzentrationslager wie in NS-Deutschland war Manzanar gewiss nicht. Trotzdem benutzt das Dokumentationszentrum den Begriff, um auf das begangene Unrecht hinzuweisen. Ein angebrachter Terminus? Auch darüber diskutieren die Besucher bis heute.
Am Ende der Ausstellung wird es politisch. Fotos zeigen den brennenden Hafen von Pearl Harbor neben den Flugzeugen, die ins World Trade Center rasten. Die Botschaft ist klar: Damals wie heute kann es schnell passieren, dass Minderheiten unter Generalverdacht geraten. Trumps Hetze gegen Minderheiten, die Einreiseverbote für Muslime, die Mauer gegen Mexiko all das wirkt nach ein paar Stunden in Manzanar noch beklemmender als ohnehin schon. "Die Geschichte wiederholt sich", schreibt ein Besucher ins Gästebuch. Ein anderer empfiehlt, den Präsidenten einmal durchs Lager zu führen.
Der Verein Densho, der sich für eine aktive Erinnerungskultur einsetzt, zieht den direkten Vergleich zur Gegenwart: Man müsse wachsam sein im Angesicht von "Terrorismus, Überwachung und dem tief sitzenden institutionellen Rassismus, auf den die Black-Lives-Matter-Bewegung unsere Aufmerksamkeit gelenkt hat." Um das zu bewerkstelligen, hat der Verein ein Lexikon zur japanisch-amerikanischen Geschichte aufgebaut.
Weit weg, mehr als 300 Kilometer von Manzanar entfernt, in Los Angeles, kämpft Bill Shishima gegen das Vergessen. Der 86-Jährige gehört zu den Nisei, der zweiten, in den USA geborenen Generation japanischer Einwanderer. Auch er musste 1942 nach Manzanar. "In unserem Bus standen Soldaten mit Gewehren und aufgepflanzten Bajonetten", sagt Shishima. "Ich habe damals überhaupt nicht verstanden, was los war." Heute engagiert sich Shishima als ehrenamtlicher Helfer im Japanese American National Museum. Er erzählt Besuchern von seiner Kindheit, in der er plötzlich keine Hotdogs mehr kaufen, kein Kino besuchen konnte "weil es solche Dinge hinter dem Stacheldrahtzaun nicht gab."
"Die Geschichte wiederholt sich"
Die Weitergabe seiner Erinnerungen ist ihm so wichtig, dass er seine 20.000 Dollar Entschädigung komplett an das Museum übertrug. "Ich will nicht, dass sich die Geschichte wiederholt", sagt Shishima. "Auch heute gibt es wieder die Forderung, dass sich Muslime registrieren sollen, weil von ihnen angeblich eine Gefahr ausgeht. Nur durch solche Maßnahmen konnte man uns damals so schnell zusammentreiben." Shishimas größte Angst: dass die Geschichte der "Japanese Americans" einfach vergessen wird. "Viele wissen so gut wie nichts darüber, wenn sie zum ersten Mal ins Museum kommen. In den Schulen ist das kaum ein Thema."
Clement Hanami, der künstlerische Leiter des Museums, gibt sich zurückhaltender. "Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs ist Teil des Highschool-Currikulums", sagt Hanami. Welchen Stellenwert die Camps einnehmen, hänge aber sehr vom Lehrer ab. Deshalb sieht er das Museum in einer besonderen Verantwortung: "Wir versuchen eine direkte Verbindung vom 7. Dezember [Angriff auf Pearl Harbor] zum 11. September zu ziehen", so Hanami. "Wir wollen sicherstellen, dass sich das Unrecht, das japanischstämmige Amerikaner erfuhren, nicht bei einer anderen Gruppe wiederholt."
Unterstützung erhält das Museum von Prominenten wie George Takei. Der Schauspieler ("Sulu" aus Star Trek) wurde als Kind ebenfalls in eines der Lager gesperrt. Nun lenkt er mit einem eigenen Broadway-Musical die Aufmerksamkeit auf das Thema. Bis August 2017 läuft im Museum zudem die Ausstellung "New Frontiers", in der Takeis Werdegang thematisiert wird inklusive der lange tabuisierten Kindheit.
Gefahrenabwehr als Rechtfertigung
Präsident Roosevelt rechtfertigte die Lagerhaft einst mit symbolischen Worten: Gefahrenabwehr. Kriegsrecht. Schutz fürs eigene Volk. Wie wenig das Ganze mit der Realität zu hatte, lässt sich im Nachhinein leicht belegen. Kein Einziger der 120.000 Gefangenen wurde wegen Spionage angeklagt, geschweige denn verurteilt. Tausende japanischstämmige Amerikaner zogen auf US-Seite sogar in den Krieg. Sie wurden direkt aus den Camps rekrutiert. Der Munson-Report, ein Regierungsbericht, der die Loyalität der Nisei untersuchen sollte, stellte eine "erstaunliche Loyalität" gegenüber den USA fest. Doch rationale Argumente zählten in der aufgeheizten Stimmung nicht.
Wie schwierig der Umgang mit gefühlten Wahrheiten ist, wird auch bei den Zeitzeugen deutlich. Kishimura Faye, die 84-jährige Kalifornierin, bekommt heute noch feuchte Augen, wenn sie an ihre Kindheit in Manzanar denkt. Quält sie die Sorge, dass sich die Fehler von damals wiederholen könnten? "Wenn Sie auf die Muslime anspielen, bin ich mir nicht sicher", antwortet die alte Dame. Das sei "eine andere Situation." Zunächst scheint es, als wolle Kishimura ihren Gedanken nicht weiter ausführen. Doch dann schiebt sie einen Satz hinterher, der aufhorchen lässt. "Es gibt einen Unterschied. Wir waren unschuldig."
Von Steve Przybilla