Er gilt als das Wunderkind unter den deutschen Trainern. Und es war klar, dass ihm Hoffenheim irgendwann zu klein werden würde. Dass Julian Nagelsmann nun bei RB Leipzig landet, hätten viele aber nicht erwartet.
Wie sollte man da noch den Überblick behalten? Am 5. Oktober 2017 waren sich viele Medien sicher: Julian Nagelsmann ist Favorit auf den Trainerposten beim FC Bayern. Ab 2018. Oder ab 2019. Am 10. Dezember kam dann die große Schlagzeile: „Dortmund einig mit Nagelsmann." Der Trainer von 1899 Hoffenheim dementierte. Er habe „keinen Kontakt mit dem BVB", versicherte er. Am 25. Januar 2018 hieß es, der FC Bayern wolle Nagelsmann nicht mehr. Am 14. Februar lautete die Schlagzeile: „Sinneswandel beim BVB? – Nagelsmann nicht mehr Trainer-Favorit für Sommer."
Am 21. Februar wurde erstmals gefragt: „Nagelsmann ins Ausland?" Am 1. März schrieb die erste englische Zeitung, Nagelsmann sei möglicher Nachfolger von Arsène Wenger beim FC Arsenal. Am 4. April war zu lesen, Lucien Favre und Nagelsmann seien die Favoriten beim BVB. Am 6. April 2018 war er angeblich wieder der Favorit des FC Bayern. Nach Wengers endgültigem Abschied kam am 21. April wieder die Kunde von der Insel, der junge Deutsche werde wohl Coach bei Arsenal. Am 1. Mai war er „Kandidat bei Chelsea". Am 3. Juni schließlich nach dem angekündigten Rücktritt von Zinédine Zidane bei Real Madrid war zu lesen: „Real wollte Nagelsmann."
Reifeprüfung mit Bravour gemeistert
Haben Sie noch den Überblick? Nein? Dann können Sie sich vorstellen, wie es dem 30-jährigen Nagelsmann gegangen sein muss. Denn der unterschrieb am Ende nicht beim FC Bayern, nicht in Dortmund, nicht bei Arsenal oder Chelsea und auch nicht in Madrid. Und auch nicht bei Inter Mailand, dem FC Valencia, Swansea City, Ajax Amsterdam oder einem der russischen Vereine, mit denen er zwischenzeitlich in Kontakt gebracht wurde. Sondern bei RB Leipzig.
Nun muss man nicht gleich wieder reflexartig auf die „Lügenpresse" schimpfen. Nur in wenigen Fällen waren die Medien Fehlinformationen aufgesessen. Denn das Interesse der allermeisten der genannten Vereine war sicher vorhanden. Und in dem einen oder anderen Fall hat es auch Gespräche gegeben. Doch die Situation war für beide Seiten nicht einfach. Hier waren die großen Vereine, die um einen zweifellos unglaublich talentierten, aber doch eben erst 30 Jahre alten Trainer warben, der erst einen Profi-Verein betreut hat und in der vergangenen Saison zum ersten Mal in der Europa League spielte. Und das nicht mal erfolgreich. Da scheute der eine oder andere GroßClub trotz des grundsätzlichen Glaubens an die Fähigkeiten des jungen Mannes sicher das Risiko.
Und auf der anderen Seite stand die wohlüberlegte Entscheidung Nagelsmanns. Der musste ja nun schon ansatzweise erkennen, wie schnell es in diesem Geschäft geht. Schienen ihm nach den erfolgreichen ersten anderthalb Jahren in Hoffenheim mit dem Klassenerhalt aus fast auswegloser Situation und der erstmaligen Europacup-Qualifikation alle Türen offenzustehen, fragten sich im Winter viele, ob er denn wirklich schon so reif sei und Vereine wie der FC Bayern und der BVB nicht doch noch eine Nummer zu groß seien. Und man darf davon ausgehen, dass diese Äußerung so oder so ähnlich auch von manchem Funktionär getätigt wurde.
Angesichts all dessen muss man feststellen, dass Nagelsmann seine Reifeprüfung in den vergangenen Monaten mit unglaublicher Bravour gemeistert hat. Er hat sich bei den vielen Fragen nach seiner Zukunft nie in seinen Statements verheddert. Er hat offenbar selbst den Überblick behalten. Er wirkt nicht abgehoben im Gegensatz zu seinem Start vor zwei Jahren. Und vor allem: Er hat zwischen all den Diskussionen und Verhandlungen über und mit ihm nie den Fokus auf das Sportliche verloren. Und setzte nach einer grandiosen Rückrunde mit Hoffenheim nochmal eins drauf und führte den Verein zur ersten Champions-League-Qualifikation.
Was man dem Trainer Julian Nagelsmann aber vor allem konstatieren muss – und was ihn dann definitiv zu einem Guten seiner Zunft macht: Er macht fast alle Spieler, die durch seine Hände gehen, besser. Sandro Wagner war ein vielerorts verlachter Stürmer, der nach einem einzigen guten Jahr in Darmstadt nach Hoffenheim kam und am Ende zum Nationalspieler wurde und zum FC Bayern abwanderte. Niklas Süle galt als talentiert, aber etwas ungelenk. Auch ihn hat Nagelsmann zum festen Kaderspieler in München und der Nationalelf geformt. Das Gleiche gilt für Sebastian Rudy, der zuvor als solide, aber bieder galt und in Hoffenheim an Präsenz und Dominanz gewann. Kevin Vogt hatte in Köln als defensiver Mittelfeldspieler keinen Stammplatz, Nagelsmann funktionierte ihn erst zum Innenverteidiger und Abwehrchef um und machte ihn so auch zum Kandidaten für Bayern und Jogi Löw. Kerem Demirbay und Mark Uth galten als in der Bundesliga gescheitert – der eine ist nun Confed-Cup-Sieger, der andere war vergangene Saison der drittbeste Bundesliga-Torschütze. Dazu entwickelte der Coach neben Süle Eigengewächse wie Nadiem Amiri oder Jeremy Toljan zu U21-Nationalspielern.
Er macht fast alle Spieler besser
Eine nahezu unglaubliche Bilanz für einen Trainer, der erst zweieinhalb Jahre im Geschäft ist. Dies warf bei Kritikern aber gleich die Frage auf, ob dieser junge Kerl denn auch mit „fertigen" Spielern, mit echten Stars und meinungsstarken Millionären klarkommt oder nur mit einer Herde von Talenten, die ihm blind folgt in dem Glauben, er werde sie besser machen.
Diesen Beweis hat Nagelsmann in der Tat noch nicht erbracht, und er wird ihn auch in seiner nächsten Station vorerst wohl kaum erbringen können. Denn die Leipziger, finanziell natürlich extrem stark gepuscht von Red Bull, haben sich selbst finanzielle Grenzen auferlegt und wollen auch bei den kritischen Traditionalisten dadurch Sympathiepunkte gewinnen, dass sie vor allem auf talentierte Spieler in der Entwicklung setzen.
Dass die Leipziger bis vor Kurzem nicht als möglicher neuer Arbeitgeber für Nagelsmann gehandelt wurden, lag an dessen Vorgänger. Ralph Hasenhüttl hat extrem erfolgreich gearbeitet, war direkt nach dem Aufstieg Vizemeister geworden, hatte Spieler wie Timo Werner, Emil Forsberg oder Naby Keïta entwickelt, hatte RB ins Europa-League-Viertelfinale und erneut in den Europacup geführt und war ebenfalls bei den Bayern und dem BVB gehandelt worden. Doch aus irgendeinem Grund haben sich er und der allmächtige Leipziger Sportdirektor Ralf Rangnick in der Endphase der Saison zerstritten. Am Ende stand die plötzliche Trennung.
Die Verantwortlichen in München und in Dortmund werden aufmerksam registriert haben, dass Nagelsmann in dieser Saison wieder die Kurve bekommen hat. Doch seine Ausstiegsklausel in Hoffenheim gilt – bisher unwiderruflich – erst ab 2019. Und beide Clubs brauchten unabhängig von möglichen Zweifeln an Nagelsmanns Reife sofort einen neuen Trainer. Vielleicht haben sich beide darauf verlassen, 2019 auf Nagelsmann zurückgreifen zu können, falls Niko Kovac bei den Bayern oder Favre bei den Westfalen nicht funktioniert.
Doch das hat sich Leipzig zunutze gemacht. Die Leipziger störten sich nicht an der Verfügbarkeit ab 2019. Sie haben in Rangnick einen, der prima als Zwischenlösung
einspringen kann, was mittlerweile auch offiziell bestätigt wurde. Daher schlugen sie zu und ersparen Nagelsmann so ein weiteres Jahr der Diskussionen. Das ihn wohl so nervte, dass er auch nicht mehr darauf warten wollte, ob sich 2019 Optionen bei größeren Clubs auftun.
Denn auch wenn Leipzig in dieser Saison drei Plätze hinter Hoffenheim landete, scheinen die kurzfristigen Entwicklungsmöglichkeiten dort größer. So mag es ein für viele umstrittener Weg sein – ein spöttischer Kommentar lautete „Von einem Plastikclub zum nächsten" – doch irgendwo auch ein logischer. In Leipzig kann Nagelsmann ähnlich arbeiten wie in Hoffenheim, nur mit größeren finanziellen Mitteln. Und er kann so entweder Leipzig sportlich zu einer ganz großen Nummer machen oder sich dort endgültig empfehlen für die großen Vereine dieser Fußball-Welt. Denn eines darf man bei alledem nicht vergessen: Er ist ja erst 30 und hat noch alle Zeit der Welt.