Die Küsten der Bretagne sind spektakulär – aber auch das Hinterland hält landschaftliche Schönheiten bereit. Etwa die Monts d’Arrée, eine einsame Berggegend im Finistère, für die sich extrafrühes Aufstehen lohnt.
Es ist noch stockdunkel als der Wecker klingelt. Aber heute gibt es kein Pardon. Eine kurze Dusche, in die Wanderkleidung geschlüpft, und dann sitzen wir auch schon im Auto. Wie schön, dass das Navi die Arbeit übernimmt, uns aus dem Städtchen Morlaix zum entlegenen Zielort lotst – wir werden in Botmeur erwartet, einem winzigen Ort in den bretonischen Bergen. Monts d’Arrée nennt sich die Bergkette aus Granit und Gneis, die den Nordwesten der Bretagne wie ein felsiger Rücken durchzieht. Kein Auto begegnet uns zu dieser frühen Stunde. Kaum irgendwo brennt ein Licht. Auf Großstadtmenschen wie uns wirkt die dünnbesiedelte Gegend beinahe unheimlich. Kilometer um Kilometer folgen wir der Landstraße durch Wald und Wiesen. Endlich leuchten die Reflektorstreifen einer Warnweste auf. Fast gleichzeitig meldet das Navi „Ziel erreicht". Am Ortseingang vom Botmeur erwartet uns Youenn, unser Wanderführer. Eine kurze Begrüßung, und schon geht es auf sandigen Wegen querfeldein. Wir wollen den Sonnenaufgang in den Monts d’Arrée erleben. Noch aber wirft der Mond sein fahles Licht auf die Heidelandschaft, auf Obstbaumwiesen, Stechginster und anderes Buschwerk. Unwirklich erscheint die Szenerie. Youenn, ein Mann Anfang 40, schreitet unserer kleinen Wandergruppe mit geschmeidigen Schritten voran. Das lange Haar trägt er zum Knoten gebunden. Wie ein Scherenschnitt zeichnet sich seine Silhouette vor dem allmählich aufklarenden Himmel ab.
Unser Guide wirkt ebenso geheimnisvoll, wie die Gegend, die wir durchstreifen. Als wir die erste kleine Anhöhe erklommen haben, deutet er mit großer Geste über das weite uns zu Füßen liegende Land „Hier, im einsamen Hochmoor Yeun Elez, vermuteten die Menschen einst die Pforten zur Hölle." Dann zeigt Youenn auf einen schroff aufragenden Felsen. Den hielten die Bewohner der Monts d’Arrée für den Beobachtungsposten des Sensenmanns. Ankou, so nennen die Bretonen den personifizierten Tod, sitze dort Nacht für Nacht, um nach verdammten Seelen Ausschau zu halten, erzählte man sich. Habe der schauerliche Geselle die Unglückseligen ausgemacht, schicke er sie durch einen irgendwo im Moor gelegenen Weiher ohne Grund in das Reich der Finsternis. In der Ferne ragen die Glockentürme kleiner Orte auf, zeugen von der christlichen Kultur, von den Anstrengungen der Kirche, dem Ankou nicht zu viele Seelen zu überlassen.
Youenn hüpft vor uns hin und her, erzählt mit theatralischen Gesten. Dass er in jungen Jahren Schauspielunterricht genommen hat, kommt dem Wanderführer heute zugute. Dann aber wechselt er das Thema, wird ganz sachlich. Die französische Regierung habe die dünn besiedelten Monts d’Arrée einst als Standort gewählt, um einen neuen Reaktortyp zu testen. 1967 wurde das Kernkraftwerk Brennilis mit seinem gasgekühlten Reaktor in Betrieb genommen. Von Anfang an war die Technologie äußerst umstritten, und Brennilis wurde Ziel mehrerer Anschläge von Atomkraftgegnern. Nachdem sich Frankreich für einen anderen Reaktortyp entschieden hatte, wurde die Anlage 1985 stillgelegt. In den 90er-Jahren hat man mit dem Abbau begonnen, ein Unterfangen, das noch immer nicht abgeschlossen ist und das bisher bereits an die 500 Millionen Euro verschlungen hat.
Bei schönem Wetter sieht man bis zur Küste
Allmählich erwacht die Natur, Vögel zwitschern. Als die ersten Sonnenstrahlen die Heidelandschaft vergolden, ist auch der letzte Rest von Müdigkeit verflogen. Der Hügel, den wir erklommen haben, ragt keine 200 Meter über dem Meeresspiegel auf – dennoch präsentiert sich ein grandioses Panorama. Youenn deutet auf die schroffen Gipfel – Tuchenn Gador, Roc’h Trévezel, und dort, wo sich die Sonnenstrahlen zwischen zwei felsigen Steilhängen Bahn brechen, der Mont Saint Michel de Brasparts. Lange Zeit galt der baumlose Gipfel als höchste Erhebung der Bretagne. Jüngere Messungen haben ihm aber lediglich eine Höhe von 381 Metern bescheinigt, womit er vier Meter hinter dem Roc’h Ruz zurückbleibt, der nunmehr als höchster Berg der Monts d’Arée das Ranking anführt. Doch egal, eindrucksvoll wirkt der baumlose Berg, dessen Hochplateau eine kleine Kapelle krönt, auch ohne einen Superlativ.
Als die Sonne noch ein bisschen höher steigt, sieht man am Horizont sogar das Meer in der Bucht von Morlaix aufblitzen. Wunderschön. Allmählich melden sich Hunger und die Lust auf Kaffee. Die Rundwanderung führt zurück nach Botmeur, wo in der alten Schule schon das Frühstück angerichtet ist. Es gibt frisch gebackenes Brot, Käse und Marmeladen. „Das Meiste hausgemacht", beteuert unser Guide. Schön muss es sein, in dieser Bilderbuchidylle zu leben, denkt man als Großstadtmensch beim Verspeisen der ländlichen Leckereien. Youenn stimmt mit Einschränkung zu. „Jahrzehntelange Abwanderung in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hat kleine Orte wie Botmeur ausbluten lassen", sagt er. Erst in den letzten Jahren habe eine kleine Gegenbewegung eingesetzt, junge Leute sind wieder hergezogen, haben sich, wie Youenn, eine berufliche Existenz in einer der am dünnsten besiedelten Gegenden des französischen Nordwestzipfels aufgebaut. Doch die weiten Wege – zur Schule, zum Arzt, zum Arbeitsplatz – machen den Alltag bisweilen zur Herausforderung.
Nach dem Frühstück verabschieden wir uns, setzen unsere Reise durch das Innere der Bretagne fort, Richtung Südosten. Die Straße führt uns nach Saint Herbot. Ein kleiner Ort mit mächtigem Glockenturm. 30 Meter ragt er gen Himmel auf, weist den Weg zum Pfarrhof und zum Kalvarienberg. Solche Andachtsstätten mit der in Stein gemeißelten Passionsgeschichte sind typisch für die Bretagne. Besonders hier, im westlichsten Departement Finistère, wurden zwischen dem 15. und dem 17. Jahrhundert zahlreiche Kalvarienberge gebaut. Die Dörfer wetteiferten um die größten und eindrucksvollsten Exemplare. Die waren nicht nur Ausdruck tiefer Frömmigkeit, sondern galten als Prestigeobjekte, die den Reichtum einer Gemeinde dokumentierten. Durch ein kunstvoll verziertes Portal betritt man die Kapelle, die dem Heiligen Herbot geweiht ist. Dieser Kirchenpatron gehört zur großen Schar der „halboffiziellen" Heiligen der Bretagne. Von Rom wurde Herbot, wie unzählige andere bretonische Heilige auch, niemals anerkannt. Die Bretonen aber verehrten den Mann, der im 6. Jahrhundert gelebt und mit außergewöhnlicher Begabung Tiere geheilt haben soll, als Schutzpatron des Hörnerviehs. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts kamen die Bauern der näheren und weiteren Umgebung – samt Rindern und Ziegen – zu einer dreitägigen Wallfahrt in den Ort, um Gesundheit und Schutz für ihre Nutztiere zu erbeten.
Ein Silberfluss schlängelt sich durchs Felsenmeer
Wenige Kilometer östlich von Saint Herbot liegt die Kleinstadt Huelgoat. Die Zeiten, in denen es hier wirklich geschäftig zuging, sind schon lange vorbei. Huelgoats Blütezeit begann im 18. Jahrhundert. Damals war die Mine im nahen Locmaria-Berrien die größte in ganz Frankreich. Bis zu 2.000 Bergleute förderten Blei und Silber zutage. Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Vorkommen weitgehend erschöpft, 1934 wurde der letzte Stollen dicht gemacht. Heute leben die Bewohner der Kleinstadt vor allem vom Tourismus. Hauptattraktion ist der Hochwald, der rund 600 Hektar große Forêt de Huelgoat. Hier herrscht das reinste Chaos. Jedenfalls das, was die Franzosen darunter verstehen. Chaos, so nennt man die Ansammlung haushoher Granitblöcke, die durch den Eispanzer der letzten Eiszeit von Felswänden abgespalten und hierher befördert worden sind. Einige der 100-Tonnen-Kolosse lassen sich, wenn man sie an der richtigen Stelle berührt, mit zwei Fingern zum Wackeln bringen.
Doch die Wackelfelsen müssen warten. Genau wie der Silberfluss, der sich durch das Felsenmeer schlängelt, und die Wanderwege, die zu den Spuren eines um 50 v. Chr. angelegten römischen Feldlagers führen. Die Müdigkeit hat uns eingeholt. Jetzt wird es Zeit für eine süße Stärkung, mit Crêpes und Blaubeeren, die im Chaoswald ganz vortrefflich gedeihen.