Sie lassen die Fahne mit den schwarz-weißen Symbolen im Winde wehen. Sie schreiben „Breizh" auf Wimpel und Logos, das bretonische Wort für Bretagne, und unter Ortschildern steht immer auch die bretonische Bezeichnung. Im Nordwesten Frankreichs lässt man keine Gelegenheit aus, um sich vom Rest des Landes abzugrenzen und regionale Identität herauszustellen.
ie Bretagne ist Keltenland. Das weiß jede Bretonin, jeder Bretone. Wer die Kelten waren, woher sie kamen, was keltische Stämme einte und was sie unterschied, das wissen nicht einmal Ethnologen so genau. Römischen Schreibern der Antike verdankt die Nachwelt immerhin Schilderungen von wilden Kriegern, weisen Druiden, Ritualen und Kultstätten, die von ausgeprägter Naturverehrung künden. Weil die keltischen Stämme, die in den Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung weite Teile Zentraleuropas und die britische Insel besiedelten, selbst keinerlei schriftlichen Zeugnisse hinterließen, blieb schon immer viel Raum für Fantasie und mythologisches Verklären der untergegangenen Kultur.
Als historisch verbrieft gilt indes, dass Kelten im 6. Jahrhundert v. Chr. auf die bretonische Halbinsel einwanderten. Sie machten das Land urbar, nannten es Armorika – Land am Meer. Jeder „Asterix"-Leser weiß aber auch, dass Rom, die antike Supermacht, im Jahr 58 v. Chr. mit der Eroberung Galliens begann und auch die keltischen Stämme im äußersten Nordwesten des heutigen Frankreichs unterwarf. Nachdem im Jahr 56 vor unserer Zeit bei Quiberon die letzte Schlacht geschlagen war, lebten Eroberer und Besiegte rund dreieinhalb Jahrhunderte lang in verhältnismäßig friedlicher Koexistenz. Die Römer gründeten Städte, bauten Straßen – von den weitreichenden Handelsbeziehungen im römischen Imperium der antiken Supermacht profitierte die ganze Region.
Die Sprache war eine Variante des Kornischen
Als das Römerreich zerfiel, setzte eine neue Einwanderungswelle ein. Ab Mitte des fünften Jahrhunderts waren es wiederum Kelten, die an den nördlichen Küsten der heutigen Bretagne Zuflucht suchten. Die keltischen Migranten kamen aus Irland und dem Südwesten Großbritanniens. Viele von ihnen hingen bereits dem christlichen Glauben an, waren Priester, Bischöfe, Mönche und Eremiten und vor Angeln, Sachsen und anderen heidnischen Eroberern aus der Heimat geflohen. Die neuen Kelten verbreiteten das Christentum in diesem Westzipfel des europäischen Kontinents, gaben der Kultur durch den Bau von Kirchen und Klöstern neue Impulse.
In dieser Zeit entwickelte sich auch die bretonische Sprache, als Variante des Kornischen, der Sprache Cornwalls, und des Walisischen, das die Einwanderer mitgebracht hatten. Im Westen der Bretagne verdrängte die neue Sprache das bis dahin vorherrschende Gallische. Bretonische Wörter wie Plou – Pfarrei –, Ker – Haus, und Lan – Einsiedelei, sind typische Vorsilben bretonischer Ortsnamen und erzählen noch heute von den Anfängen der Kultur, von den keltischen Gründungsvätern, die man in der Region noch heute als Heilige verehrt.
Über Jahrhunderte konnten die Bretonen durch die Schlagkraft der Heere und trutzige Burgen die Halbinsel an der Nordwestspitze Europas gegen Eroberer verteidigen. 1532 war es dann aber mit der bretonischen Unabhängigkeit vorbei. Die Tochter der Herzogin Anne de Bretagne heiratete den späteren König von Frankreich und das bretonische Herzogtum wurde mit dem französischen Königreich vereint. Die eigene Sprache blieb den Bretonen erhalten. Zwar parlierten die höheren Gesellschaftsschichten auch in Quimper, Quiberon und Brest bald nur noch Französisch. Die einfachen Leute aber, die Fischer und Bauern, hielten über Jahrhunderte an der keltischen Sprache mit den kehligen Lauten und den harten Konsonanten fest, die für alle anderen Franzosen eine phonetische Herausforderung ist.
Die Dinge änderten sich im 19. Jahrhundert, als Frankreichs Zentralregierung die allgemeine Schulpflicht einführte. Bretonisch wurde als vulgär diffamiert und von den Pariser Autoritäten systematisch unterdrückt. Schulkindern trieb man die Sprache der Eltern und Großeltern auch durch Prügelstrafen aus. Bei Behörden und vor Gericht hatten all diejenigen, die ihr Anliegen nicht auf Französisch vorbringen konnten, von vornherein schlechte Karten. Sie wurden einfach nicht angehört.
Gegen traditionelle Feste, bei denen der „Kan-ha-Diskan", ein bretonischer Wechselgesang, angestimmt wird und Dudelsack und Bombarde erklingen, hatte aber auch die Pariser Zentralregierung nichts. Bis in die 20er-Jahre hatten solche Fest-noz ihren festen Platz im bäuerlichen Jahresreigen. Das änderte sich in den 30ern. Immer mehr Maschinen hielten Einzug in die Landwirtschaft, verdrängten die Handarbeit und mit ihr die althergebrachte dörfliche Kultur. Dort, wo die Tradition noch lebendig war, wurde sie von den deutschen Besatzern verboten, als diese sich ab 1940 großer Teile Frankreichs bemächtigten.
Mitte der 50er-Jahre besannen sich die ersten Bretonen dann wieder auf das fast verlorene Erbe. Als einer der Retter der zu traditioneller Musik durchtanzten Nächte ist Loeiz Ropars (1921–2007) in die bretonische Geschichte eingegangen. 1955 lud der Sänger Gleichgesinnte zu einem solchen Event in seinen Heimatort Poullaouen, eine kleine Gemeinde im Finistère. Um die 3.000 Menschen kamen – die Fest-noz, das Fest voller überschäumender Lebensfreude, war neu geboren.
Wer einmal mitgemacht hat, wenn Bretonen ein Fest-noz feiern und eine Gavotte nach der anderen aufs Parkett legen, wird das rauschhafte Glücksgefühl nicht so schnell vergessen. Man fasst sich bei den Händen oder hakt sich unter, setzt die Füße trappelnd seitwärts, vor und zurück. Mal geht es links, mal rechts herum, mal läuft die Schrittfolge auf ein energisches Trampeln, mal auf einen kecken Hüpfer hinaus. In Kreis- oder Kettenformationen bewegen sich die Tanzenden durch den Raum, voneinander weg und aufeinander zu, im Rhythmus der Musik, die immer schneller und ausgelassener wird. Und irgendwann scheint sich alles drumherum aufzulösen. Wer sich einreiht, wird Teil des Strudels, spürt den Sog, spürt die pure Energie.
Wunsch nach Unabhängigkeit
Bald fanden auch junge Städter Gefallen an dem traditionell ländlichen Vergnügen. Ihnen ging es aber nicht nur um Brauchtum und Lebensfreude. Ein Fest-noz zu feiern, war in den 60er-Jahren auch ein politisches Statement, Ausdruck einer wiedererwachenden bretonischen Unabhängigkeitsbewegung. Immer öfter betraten junge Barden die Bühnen, sangen in keltischen Dialekten, heizten dem Publikum mit Binou, dem Dudelsack, ein, und mit der Bombarde, einer Oboe, die viel Atem verlangt und die bretonischen Tänze seit eh und je begleitet.
Auch die schon lange in Vergessenheit geratene keltische Harfe erlebte eine Renaissance. Zum Meister dieses Instruments wurde Alan Stivell, der, von der internationalen Folk-Euphorie getragen, das keltische Erbe im In- und Ausland populär werden ließ und große Hallen und Säle zum Beben brachte. Konzerte hat der Bretone bisweilen zu rauschenden Fest-noz werden lassen, bei denen es keinen Fan auf dem Sitzplatz hielt. Heute tanzt man vielerorts in der Bretagne bei keltischen Klängen durch die Nacht, vor allem im Sommer, aber auch zu anderen Jahreszeiten. Seit 2012 gehören Fest-noz sogar zum immateriellen Kulturerbe der Unesco.
Um die bretonische Sprache indes ist es nicht so gut bestellt. Seit den 70er-Jahren steht Bretonisch zwar wieder als Wahlfach auf den Lehrplänen, auch bilingual ausgerichtete Grundschulklassen und Kindergartengruppen existieren. An den Universitäten beschäftigen sich Linguisten mit dem Bretonischen und auch an entsprechenden Rundfunkprogrammen fehlt es nicht. Dennoch befindet sich die Zahl der Sprecher im Sinkflug. Im Jahr 2014, so Schätzungen, beherrschten erstmals weniger als 200.000 Menschen die einzige auf dem europäischen Festland verbliebene keltische Sprache – Brezhoneg, wie Bretonisch auf Bretonisch heißt.