Der vor 50 Jahren verstorbene Otto Hahn gilt als Pionier der Radiochemie und machte Ende 1938 mit seiner wichtigsten Entdeckung, der Kernspaltung des Urans, die friedliche Nutzung der Atomenergie möglich. Allerdings schuf er dadurch auch – ganz konträr zu seinen Absichten – die Grundlagen zur Herstellung der Atombombe.
Die Max-Planck-Gesellschaft würdigte ihren Ehrenpräsidenten und ehemaligen, zwischen 1948 und 1960 amtierenden Gründungspräsidenten Otto Hahn nach dessen Tod im 90. Lebensjahr am 28. Juli 1968: „Als Begründer des Atomzeitalters wird er in die Geschichte der Menschheit eingehen. Deutschland verliert mit ihm einen Gelehrten, der sich durch aufrechte Haltung und innere Bescheidenheit in gleicher Weise auszeichnete." Der Wissenschaftler, der sich nicht einmal den Nazis gebeugt hatte, sondern im Rahmen seiner Möglichkeiten gemeinsam mit seiner Frau humanitäre Überlebenshilfe für seine jüdischen Landsleute betrieben hatte, war an akutem Herzversagen verstorben.
Mit ihm verlor die junge Bundesrepublik einen ihrer meistgeehrten Mitbürger und die Welt einen der höchstdekorierten Forscher der Geschichte. Der Chemie-Nobelpreisträger des Jahres 1944 wäre fraglos auch ein mehr als würdiger Repräsentant für das höchste Amt im Staat gewesen. Doch eine von bekannten Persönlichkeiten gemeinsam mit der FDP unterstützte Kandidatur als Nachfolger von Theodor Heuss lehnte Hahn 1959 mit Hinweis auf sein fortgeschrittenes Alter und den betagten Bundeskanzler Adenauer ab: „Zwei Achtziger in Bonn? Einer reicht schon voll und ganz!"
Mit Nominierungen hatte Hahn ohnehin reichlich Erfahrungen sammeln dürfen. Bis 1945 war er insgesamt 22 Mal für den Chemie-Nobelpreis benannt worden, zwischen 1937 und 1947 wurde er immerhin auch noch 16 Mal als Preisträger für den Physik-Nobelpreis vorgeschlagen. Schließlich hatten ihn nach 1957 verschiedene internationale Organisationen für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen, um damit sein vehementes Engagement für Pazifismus und Völkerverständigung, gegen Krieg und Einsatz wie Erprobung von Atomwaffen zu honorieren. Auch wenn er damit bei manchen Polit-Prominenten der Bundesrepublik angeeckt war. Vor allem dem damaligen Bundesverteidigungsminister Franz-Josef Strauß, der sich die nukleare Bewaffnung der Bundeswehr zum Ziel gesetzt hatte, war Hahn mit seinem Friedensaktivismus ein Dorn im Auge: „Ein alter Trottel", so Strauß beleidigend 1957, „der die Tränen nicht halten und nachts nicht schlafen kann, wenn er an Hiroshima denkt!"
Im Gespräch als Bundespräsident
Otto Emil Hahn wurde am 8. März 1879 als jüngster Sohn des zu Wohlstand gekommenen Glasermeisters Heinrich Hahn und dessen Ehefrau Charlotte in Frankfurt am Main geboren. Er besuchte die Klinger-Oberrealschule und interessierte sich ausgerechnet für das Fach Chemie, das er im Unterricht nach eigenem Bekunden in seiner posthum 1969 veröffentlichten Autobiografie „Mein Leben" zum „Schlafen langweilig" fand: „Schon in der Zeit der Untersekunda hatte ich mit einem meiner Kameraden in der Waschküche meiner Mutter Versuche durchgeführt."
Nachdem er als Oberprimaner einen chemischen Experimentalvortrag von Martin Freund, dem späteren Ordinarius für Chemie an der Frankfurter Universität, gehört hatte, verfestigte sich allmählich sein Entschluss, Chemie zu studieren und nach dem 1897 bestandenen Abitur den Beruf des Industriechemikers anzustreben, obwohl sein Vater ihn eigentlich lieber als Architekten gesehen hätte. Noch im gleichen Jahr nahm er das Studium der Chemie und Mineralogie an der Philipps-Universität Marburg auf, als Nebenfächer hatte er Physik und Philosophie belegt. Bereits im Sommer 1901 promovierte er mit einem Thema aus der klassischen organischen Chemie und trat anschließend seinen einjährigen Militärdienst an. Danach kehrte er für zwei Jahre als Assistent seines Doktorvaters Theodor Zincke an die Marburger Universität zurück.
Mit dem noch jungen Forschungsgebiet Radioaktivität hatte Hahn damals nichts am Hut. Vielmehr wollte er gutes Geld in der freien Wirtschaft als Chemiker verdienen, um nicht länger auf die finanzielle Unterstützung seines Vaters angewiesen zu sein.
Als ihm die Chemischen Werke Kalle & Co aus Biebrich daher einen entsprechenden Job unter der Bedingung einer deutlichen Verbesserung seiner englischen Sprachkenntnisse angeboten hatten, zögerte Hahn 1904 keine Sekunde, um sich auf den Weg nach London zu machen. Dank eines Empfehlungsschreibens seines Doktorvaters konnte Hahn dort Kontakt mit Sir William Ramsay aufnehmen, der sich am University College als weltweit hoch angesehener Fachmann mit Radiochemie beschäftigte. Ramsay ließ den jungen Forscher mit radioaktiven Elementen experimentieren, zur Verblüffung Ramsays hatte Hahn schon nach kurzer Zeit ein neues Element namens „Radiothorium" entdeckt.
Aus dem fernen Montreal meldete Ernest Rutherford – wie Ramsay einer der frühen Radiochemie-Pioniere – allerdings erhebliche Zweifel an der Existenz dieses neuen Elementes an. Kurzerhand fasste Hahn den Entschluss, seine Kenntnisse auf dem Gebiet der Radioaktivität bei Rutherford an der McGill University zu vertiefen und machte sich daher im Herbst 1905 auf den Weg nach Kanada. Das Radiothorium wurde schnell akzeptiert, zudem gelang Hahn die Entdeckung zweier weiterer radioaktiver Elemente. Das veranlasste Rutherford zu folgender Bemerkung: „Hahn hat eine gute Nase für die Entdeckung neuer Elemente." Im Sommer 1906 kehrte Hahn, der sich inzwischen für den Weg in die Forschung entschieden hatte, nach Deutschland zurück und wurde Mitarbeiter am Chemischen Institut der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, dessen Leiter Emil Fischer dem exotischen Radiochemiker einen Platz fernab des normalen biochemischen Betriebs in einer ehemaligen Holzwerkstatt im Erdgeschoss zuwies.
Hahn setzte hier seine bewährten Entdeckungen mit „Mesothorium I" „Mesothorium II" und „Ionium" fort. Wobei besonders Mesothorium I für die medizinische Forschung nützlich war, weil es teurere Substanzen in der Strahlentherapie ersetzen konnte. Im Juni 1907 habilitierte Hahn an der Friedrich-Wilhelms-Universität und machte einige Monate später die Bekanntschaft der fast gleichaltrigen Physikerin Lise Meitner, die von Wien nach Berlin gewechselt war. Damit nahm die 30 Jahre lang dauernde Zusammenarbeit und lebenslange Freundschaft zwischen den beiden Wissenschaftlern ihren Anfang.
Als nächstes gelang Hahn 1908/1909 der Nachweis des radioaktiven Rückstoßes. 1912 wurde Hahn die Leitung der radiochemischen Abteilung im neu geschaffenen Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin-Dahlem übertragen, das er ab 1926 kommissarisch und von 1928 bis 1945 als Direktor führen sollte. Die damit verbundene finanzielle Unabhängigkeit ermöglichte ihm, die Kunststudentin Edith Junghans im März 1913 zu heiraten. Aus der Ehe sollte 1922 der Sohn Hanno Hahn hervorgehen. Im Ersten Weltkrieg war Hahn als Mitglied einer von Fritz Haber geleiteten Spezialeinheit an der Entwicklung und Produktion von Giftgas beteiligt. 1917/1918 entdeckten Hahn und Meitner gemeinsam die Substanz „Protactinium", „ein neues radioaktives Element von langer Lebensdauer", so die offizielle Erklärung. 1921 gelang Hahn die Entdeckung des Uran Z und damit verbunden die der Kernisometrie.
Kernspaltung eher zufällig
Unter der NS-Diktatur lehnte Hahn einen Eintritt in die NSDAP mehrfach ab und trat aus Protest gegen die Entlassung jüdischer Kollegen aus dem Lehrkörper der Berliner Universität aus. Mitte der 1930er-Jahre begannen Hahn und Meitner mit ihren „Transuran-Experimenten". Sprich sie versuchten die Ergebnisse des italienischen Kernphysikers Enrico Fermi aus dem Jahr 1934 zu überprüfen, der bei der Bestrahlung von Uran mit Neutronen durch Umwandlung und Absorption ein Transuran, also ein Element mit einer höheren Ordnungszahl als die 92 des Urans, erhalten haben wollte. Man ging damals davon aus, dass beim Bestrahlen von Atomen nur solche Elemente entstehen konnten, die sich im Gewicht wenig vom Ausgangselement unterschieden. Atomkerne galten als unteilbar.
Eine Kernspaltung, wie sie Otto Hahn und seinem Assistenten Fritz Strassmann am 17. Dezember 1938 gelang, war ebenso unvorhersehbar wie unerklärlich. Der ratlose Hahn sprach zunächst nur von einem „Zerplatzen" des Urankerns, das unerwartete Auftauchen des Elements Barium, dessen Atommasse der Hälfte des Urans entsprach, ließ ganz vorsichtig die These einer Kernspaltung aufkeimen. Deren physikalisch-theoretischen Nachweis samt Hinweis auf eine gigantische Energiefreisetzung sollten Anfang 1939 die ins schwedische Exil geflüchtete jüdischstämmige Lise Meitner gemeinsam mit ihrem Neffen Otto Robert Frisch erbringen. Letzterer verwendete erstmals den Begriff „nuclear fiction" für die „Kernspaltung".
Mit der Entwicklung der amerikanischen Atombombe hatte Hahn nichts zu tun, obwohl sie ebenso auf seiner Entdeckung der Kernspaltung beruhte wie die Eröffnung des ersten Kernreaktors am 2. Dezember 1942 in Chicago. Als Hahn Anfang August 1945 im britischen Internierungslager nahe Cambridge vom Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki hörte, war er daher tief erschüttert, weil er sich mitverantwortlich für den Tod vieler unschuldiger Menschen gefühlt hatte. In diesen schweren Stunden dürfte Hahns aktiver Pazifismus geboren worden sein.