Melatonin ist der Taktgeber der inneren Uhr. Besonders in den USA wird das Hormon nicht nur bei Schlafstörungen, sondern wegen seiner erwiesenen antioxidativen Wirkung auch gegen das Altern sowie bei Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen empfohlen.
Deutschland schläft schlecht", lautet das Resümee des von der DAK veröffentlichten „Gesundheitsreports 2017". Rund 80 Prozent der Arbeitnehmer leiden demnach unter Schlafstörungen, umgerechnet sind das 34 Millionen Menschen. Drei Millionen Deutsche greifen daher regelmäßig zu Einschlafhilfen. Wobei sie wahlweise zu Schlaftabletten mit „Z-Substanzen" (Zaleplon, Zolpidem oder Zopicion) oder mit „Benzodiazepinen" als Wirkstoffen zurückgreifen, die allesamt im Gehirn eine vermehrte Ausschüttung des Botenstoffs Gamma-Amino-Buttersäure bewirken, der den Impuls zum Schlafen von Nerv zu Nerv weiterleitet.
Beim kurzzeitigen Einsatz der Pillen über maximal zwei Wochen gibt es in der Regel keine gesundheitlichen Probleme, doch bei längerem Konsum besteht eine erhebliche Suchtgefahr. Mehr als eine Million Menschen gelten in Deutschland als von Schlaftabletten abhängig, die Dunkelziffer dürfte aber weit höher liegen. Die Gründe für die Schlafstörungen sind vielfältig, wobei sogar die Zeitumstellungen vielen Bundesbürgern laut einer aktuellen Forsa-Befragung im Auftrag der DAK erhebliches Ungemach bereiten. Demnach fühlte sich bereits mehr als jeder Vierte davon betroffen, rund drei Millionen Deutsche gaben an, dann auch schon mal Schlafmittel eingesetzt zu haben.
Melatonin gibt es nicht rezeptfrei
Angesichts der ziemlich gravierenden Nebenwirkungen und dem Suchtpotenzial der gängigen Schlaftabletten schien das in den 1990er-Jahren in den USA schnell zum Bestseller aufgestiegene Melatonin ein wahres und die Gesundheit schonendes Wundermittel zu sein. Es wurde nicht nur als perfekte Einschlafhilfe angepriesen, sondern auch als die Alterung der Zellen stoppender Jungbrunnen, als freier Radikalenfänger sowie als Vorbeuge- oder Geheimwaffe gegen Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Aids oder Alzheimer. Nachdem sich aber herausstellte, dass diese Studien einer gründlichen wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten konnten, ging die Nachfrage in den USA nur kurzzeitig zurück. Inzwischen nehmen wieder mehr als drei Millionen Amerikaner regelmäßig Melatonin zu sich, das als Nahrungsergänzungsmittel rezeptfrei erworben werden kann.
In Deutschland gibt es seitens der Pharma-Industrie keine Lobby für die patentfreie und relativ billige Substanz. Daher ist Melatonin nicht als Nahrungsergänzungsmittel erlaubt, sondern wurde 2008 als retardiertes, sprich den Wirkstoff verlangsamt über einige Stunden hinweg freisetzendes Medikament, das die natürliche Produktion des Hormons Melatonin im Körper nachahmt, eingestuft. Grundlage der Zulassung als Medikament waren drei Studien mit Patienten mit Schlafstörungen, deren Ursache nicht organischen oder psychiatrischen Ursprungs war. Da sich bei einem Drittel die Symptome verbesserten und kaum Nebenwirkungen festgestellt werden konnten, stand einer Zulassung nichts im Wege. Heute darf Melatonin Patienten ab 55 Jahren, Schichtarbeitern und zur Linderung des Jetlags verordnet werden.
Melatonin ist hierzulande unter dem Handelsnamen Circadin mit einer Dosierung von zwei Milligramm pro Tablette, was der Tagesdosis entspricht, auf dem Apothekenmarkt vertreten. Dort ist es keineswegs ein Verkaufsschlager. 2017 gingen gerade mal drei Millionen Packungen Circadin über die Ladentheke, im Vergleich zu den gängigen Schlaftabletten mengenmäßig nicht sonderlich viel. Allerdings dürften sich manche Bundesbürger Melatonin als Nahrungsergänzungsmittel aus den USA besorgt oder bei Online-Apotheken mit Sitz beispielsweise in der Schweiz, in den Niederlanden oder England bestellt haben, die sich längst speziell auf den Versand an deutsche Kunden eingerichtet haben. Die Dosierung kann im Ausland durchaus höher sein, in Italien beispielsweise ist es mit einer Dosis bis zu fünf Milligramm als Nahrungsergänzungsmittel frei verkäuflich.
Das Schlafhormon Melatonin wird im menschlichen Gehirn in der erbsengroßen Zirbeldrüse aus dem Botenstoff und Wohlfühlhormon Serotonin mit anbrechender Dunkelheit gebildet und anschließend in den Blutkreislauf abgegeben, weswegen wir abends müde werden. Der Melatoninspiegel steigt im Laufe der Nacht langsam immer weiter an und geht in den frühen Morgenstunden mit dem einfallenden und die Produktion hemmenden Tageslicht nach und nach wieder zurück. Damit ist das Melatonin so etwas wie der Taktgeber unserer inneren Uhr, es regelt den Tag-Nacht- oder Schlaf-Wach-Rhythmus des Menschen, den „zirkadianen Rhythmus".
Da mit diesem auch andere biologische Prozesse direkt verbunden sind, hat die Melatonin-Ausschüttung auch Auswirkungen auf Nierenfunktion und Blutdruck. Ungünstige Veränderungen im Melatonin-Haushalt tauchen besonders häufig in den Wintermonaten auf, wenn der Spiegel des Hormons wegen des wenigen Tageslichts auch tagsüber schon mal erhöht bleibt, weil die Produktion nicht gänzlich gehemmt wird. Schlafstörungen, Müdigkeit oder Winterdepressionen können die Folgen sein. Um diesen Symptomen vorzubeugen, sollte man möglichst viel Tageslicht tanken oder bei anhaltenden Beschwerden sogar eine Lichttherapie in Betracht ziehen. Mit fortschreitendem Alter produziert unser Körper immer weniger Melatonin. Was zu der Annahme geführt hat, dass die in der letzten Lebenshälfte häufig auftretenden Schlafstörungen mit dem Absinken des Melatonin-Spiegels in Zusammenhang stehen könnten. Dadurch erklärt sich auch die Altersgrenzen-Vorgabe bei der Zulassung von Circadin.
Der schlaffördernde Effekt des Hormonpräparats scheint inzwischen durch mehrere Studien belegt. Im Unterschied zu den klassischen Schlaftabletten nimmt es keinen Einfluss auf den Schlaf als solches, sondern lediglich auf den zirkadianen Rhythmus, also den 24-Stunden-Takt des Gehirns. „Melatonin normalisiert den Schlafrhythmus und stärkt die qualitativen Aspekte des Schlafs", so Dieter Kunz, Chefarzt der Abteilung für Schlaf- und Chronomedizin am Berliner St. Hedwig-Krankenhaus. Denn im Schlaf schaltet das menschliche Gehirn keineswegs ab, sondern arbeitet normalerweise auf Hochtouren, um alles zu verarbeiten, was es tagsüber wahrgenommen hat. Genau dieser Vorgang wird von klassischen Schlaftabletten häufig unterdrückt. Melatonin hingegen wirkt auf natürlichere Weise und viel sanfter, weshalb es zur Behandlung schwerer, auf Erkrankungen beruhenden Schlafstörungen auch nicht geeignet ist.
Einnahmezeit sollte täglich identisch sein
Laut Kunz kann die optimale Wirkung des Präparats nur dann erzielt werden, wenn der Einnahmezeitpunkt täglich möglichst der gleiche ist, idealerweise zwischen 22 und 23 Uhr. Bei den gängigen Schlaftabletten hingegen spielt der Einnahmezeitpunkt bekanntlich keine Rolle.
Auch die antioxidative Wirkung von Melatonin gilt mittlerweile als wissenschaftlich gesichert. Das Hormon, das in Unterschied zu vielen anderen Antioxidantien sowohl fett- als auch wasserlöslich ist, bietet daher einen guten Rundumschutz gegen freie Radikale. Ob es einen Zusammenhang zwischen dem Alterungsprozess der Zellen und der im Alter nachlassenden Melatonin-Produktion gibt, ist bislang ebenso ungeklärt wie der Sachverhalt, ob eine Einnahme von Melatonin-Präparaten zu einer Verlangsamung des Alterungsprozesses führen kann. Auch eine positive Wirkung von Melatonin bei Krebserkrankungen oder zur Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen konnte bislang nicht nachgewiesen werden.
Über einen kürzeren Zeitraum von maximal zwei bis drei Monaten eingenommen, weist Melatonin in der Regel kaum Nebenwirkungen auf. Mögliche Risiken einer Langzeiteinnahme wurden bislang noch nicht erforscht. Während der Schwangerschaft und Stillzeit wird von Melatonin abgeraten. Als Alternative zum Schlucken von Circadin-Tabletten wird häufig zum Verzehr von Lebensmitteln wie Pistazien, Gurken oder Bananen geraten, die ebenso wie der Sauerkirschsaft des Berliner Start-up-Unternehmens Sleep.Ink oder das gefriergetrocknete Milchpulver namens „Nachtkristalle" des brandenburgischen Milchhofs Kolochau ansehnliche Konzentrationen an Melatonin enthalten sollen. Tatsächlich ist die darin enthaltene Menge an Melatonin recht überschaubar. Kunz: „Mindestens 100 Kilo Bananen müsste man essen, um auf eine Tablette Cicardin zu kommen".