Lyon war in ganz Europa als Stadt der Weber bekannt. Könige, Kaiser und Kirchenfürsten hüllten sich in die hier produzierten Gewänder und statteten ihre Paläste mit kostbarem Tuch aus. Die historischen Viertel der Metropole bieten noch heute Stoff für bunte Geschichten: Versteckte Wege führen zu den Ateliers der Seidenmanufakturen.
Darf man das: Einfach die angelehnte Türe aufdrücken, als sei man tatsächlich hier zu Hause und kein Besucher? Der geheime Gang führt zu einem lauschigen Innenhof mit Arkaden und einem sich gen Himmel windenden Treppenturm. Vor 500 Jahren stellten die Bankiers und Tuchhändler ihren Reichtum nicht nur mit prächtigen Fassaden zur Schau. Sie schmückten auch das vor neugierigen Augen verborgene Innere ihrer Residenzen. Nach ein paar Schritten schon wieder eine Tür: Nun steht man auf einem ganz anderen Sträßchen. Gegenüber befindet sich der nächste Eingang – und dahinter erneut ein Geheimnis? Wer die Traboules entdeckt, wie die versteckten Passagen genannt werden, macht statt eines normalen Stadtrundgangs eher eine Kombination aus Schatzsuche und Schnitzeljagd.
Bürgerhäuser aus der Renaissance
Und ja, man darf das. Viele von Lyons alten Geheimgängen sind inzwischen nicht mehr wirklich geheim, weil sie im Stadtplan verzeichnet sind, den die Tourist-Info verteilt. Andere, deren Zugänge mit einem Code geschützt sind, kennen bis heute nur Einheimische. Mehrere Hundert Traboules gibt es in Vieux-Lyon, dem historischen Distrikt mit seinen Bürgerhäusern aus der Zeit der Renaissance, und hoch oben auf dem Hügel über den Flüssen Rhone und Saône im ehemaligen Arbeiterviertel Croix-Rousse. Inzwischen sind es Abkürzungen, um schnell von A nach B zu kommen. Früher nutzte man sie aber vor allem, um kostbare Ware geschützt durch die Stadt zu transportieren. Der rote Faden, der sich durch die Traboules schlängelt und Vieux-Lyon mit Croix-Rousse verbindet, ist aus Seide.
Den edlen Stoff hat Delphine Godefroy bei ihren Stadtführungen immer im Blick. „Der Reichtum der Stadt hing schließlich an unzähligen seidenen Fäden", scherzt sie. Bevor die Expertin ihren Gästen jene versteckten Orte zeigt, an denen noch immer die Webstühle klappern, geht es mit der ratternden Standseilbahn erst einmal hoch hinaus auf den Hügel Fourvière. Dort oben gründeten die Römer im Jahr 43 vor Christus die Hauptstadt der Gallier und nannten sie Lugdunum. Sie bauten auf den Mauern eines keltischen Heiligtums zwei Amphitheater, die fast 2.000 Jahre später immer noch stehen. Von Fourvière bietet sich heute das beste Panorama auf Frankreichs drittgrößte Metropole. Dann folgt der Abstieg, über das Grün der Gartenanlagen des Jardins du Rosaire zurück in die Innenstadt.
„Vor etwa fünf Jahrhunderten begann jene Zeit, in der Lyon als Stadt der Seide in ganz Europa bekannt wurde. Zunächst kamen die Kaufleute, um hier ihre Waren zu handeln. Dann siedelten sich auch unzählige Handwerker an", weiß Delphine Godefroy. Erzählt wird die lange Geschichte der Weberei im Musée des Tissus: Das Museum rühmt sich, mit mehr als drei Millionen Stoffmustern im Magazin die größte Textilkollektion der Welt zu besitzen. Wer auf den Geschmack kommt, kann in den benachbarten Läden gleich das Portemonnaie zücken.
Erst kamen Kaufleute, dann die Handwerker
Boutiquen wie „Maison Combier", „Soierie Saint-Georges", „Brochier Soieries" oder „Trésor de Soie" preisen Krawatten, Schals und Tücher stolz als „Made in Lyon" an. Tatsächlich produzieren bis heute viele bekannte Luxusmarken in den Fabriken vor den Toren der Stadt. Die aufstrebenden Modeschöpfer, die in den winzigen Pop-up-Stores des Village des Créateurs in der Passage Thiaffait ihre neuesten Designerstücke ausstellen, lassen als echte lyonnaiser Patrioten ebenfalls nicht im fernen Asien fertigen, sondern gleich um die Ecke. In der Umgebung von Lyon gibt es außerdem bis heute einige Farmen, auf denen die Seidenraupen an Maulbeerbaumblättern knabbern und dann ihre feinen Kokons spinnen.
Heute nutzt man edle Seide für modische Accessoires, manchmal auch für besonders schicke Anzüge und Kleider. Doch zur Blütezeit der Seidenweberei schufteten die Handwerker vor allem für Architekten und Dekorateure. Als der „Sonnenkönig" Ludwig XIV. so ziemlich jede Ecke seines Schlosses in Versailles mit gewebten Stoffen ausgestattet hatte, machten es ihm die anderen Kaiser, Könige und Kirchenfürsten sowie wohlhabende Bürger nach. Anfang des 19. Jahrhunderts erfand dann Joseph-Marie Jacquard, ein Weber aus Lyon, den nach ihm benannten programmierbaren Webstuhl: Mit einem System aus Lochkarten konnten die Maschinen plötzlich so gesteuert werden, dass sie auch relativ komplizierte Muster quasi endlos automatisch webten.
Wenn bis heute aus manchen Fenstern ein Klackern, Knallen und Rattern ertönt, liegt das am Verein Soierie Vivante. Der betreibt zwei Weberateliers, die immer noch in Betrieb sind. Hier erklärt Hélène Carleschi die Funktionsweise eines Webstuhls: Wie ein Pedal die Fäden anhebt, dann das Schiffchen mit einem Irrsinnstempo hindurch fährt, und schließlich der Kamm den Webfaden ans Gewebe schlägt. So ging das quasi Tag und Nacht: „Die Weber arbeiteten als Selbstständige in Heimarbeit für die Seidenhändler. Die ganze Familie musste mithelfen, denn es war ein schlecht bezahlter Knochenjob." Als die Arbeiter zu revoltierten begannen, wurden die Proteste vom Militär niedergeschlagen.
Rund 30.000 Seidenweber siedelten sich im 19. Jahrhundert in Croix-Rousse an, einem neuen Stadtviertel auf dem Hügel zwischen den Flüssen Rhone und Saône. Für ihre Tapeten und Teppiche, Polsterbezüge und Vorhänge brauchten sie gut vier Meter hohe Webstühle – für derart große Maschinen war in den niedrigen Wohnungen der Altstadt schlichtweg kein Platz. Heute hat Lyon zwar viele hübsche Ecken und will mit dem Kunstmuseum Musée des Confluences auch die Ufer der beiden Flüsse entwickeln. Doch gerade das ehemalige Arbeiterviertel Croix-Rousse hat sich zum angesagtesten Quartier der Stadt entwickelt. Die Bobos, wie man hier Hipster nennt, lieben die vielen Cafés und kleinen Läden.
Schatzkammer der Seidenweber
Während die Traboules auch hier kein Geheimnis mehr sind, bietet Croix-Rousse doch so manche Überraschung. „Die Leute denken, uns gibt es nicht mehr. Von wegen. Wir weben immer noch Seide und zwar wie früher in Handarbeit", sagt Gisèle Bardet. Die 57-Jährige sitzt mit ihren jungen Kollegen Nicolas Meunier und Sebastien Roche oft viele Monate, manchmal sogar etliche Jahre an besonderen Stücken. Guillaume Verzier ist der Inhaber des Familienbetriebs Manufacture Prelle und sagt: „Privatleute haben zwar vielleicht das Geld, aber selten die nötige Geduld. Viele unserer Kunden sind Dekorateure und Restaurateure."
Ob für die Schlösser in Rastatt oder Versailles, für die Opernhäuser in Monte Carlo oder Paris, für die Residenzen von Botschaftern oder Industriemagnaten in Europa und Übersee: Die Vorfahren von Guillaume Verzier haben vor mehr als 250 Jahren begonnen, Räume mit edlen Stoffen auszustatten. Mal war Brokat in Mode, dann Faconné oder Samt. Wie oft sich die Designs seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verändert haben, sieht man bei einem Blick in die Folianten des Archivs. Mal sind es bunte Blumen, mal detailreich gestaltete tropische Vögel, mal abstrakte geometrische Formen. Es ist eine Reise durch die Kunstgeschichte, und in der Schatzkammer der Seidenweber lagern noch immer alle Muster.
Manche Kreation lässt sich heute auch mit jenen modernen Maschinen weben, die hundert Meter am Tag schaffen. Doch für komplizierte Aufträge mit vielen Farbschattierungen und Motiven, die sich durch das Abhobeln der Seide vom Grundstoff abheben, setzen sich die Spezialisten der Manufaktur immer noch an die historischen Webstühle aus dem 19. Jahrhundert. Dann ist nicht Schnelligkeit gefragt, sondern die bestmögliche Qualität. Deswegen dauerte es auch ganze 23 Jahre, bis die Manufaktur Prelle nach den historischen Vorlagen jene Stoffe gewebt hatte, die heute das restaurierte Prunkschlafzimmer des Sonnenkönigs Ludwig XIV. im Schloss Versailles zieren. „Wenn es gut läuft", lächelt Gisèle Bardet, „schafft man bei so einem Projekt zweieinhalb Zentimeter am Tag."