Schwer beeindruckende Bergkulissen, aber leicht begehbare Wege: Die drei- bis viertägige Karwendel-Durchquerung ist die ideale Einstiegsdroge für Weitwanderer. Den 51 Kilometer langen Höhenweg durch die Tiroler Felsbastion schaffen selbst Kinder gut.
Wandern, ja, aber bitte nicht zu viel. Weil: Lang ist gleich langweilig. Mit dieser Grundeinstellung ihrer Kinder haben viele Eltern zu kämpfen. So auch wir. Umso größer also die Freude, als sich ein Sinneswandel beim Nachwuchs abzeichnete – und die prinzipielle Bereitschaft, doch einmal das Abenteuer Mehrtagestour anzugehen. Bedingung: Die etwa gleich alte Cousine darf mit. Aber gerne doch! Die Gunst der Stunde nutzend beschloss der Familienrat also eine Wanderreise von Hütte zu Hütte. Vier Tage! Quer durchs Karwendel! Von West nach Ost, von der Isar zum Inn! Ein Klassiker durch Österreichs größten Naturpark und aufgrund seiner leichten, zu keiner Zeit ausgesetzten Wege und überschaubaren Höhenunterschiede ein Klacks für erfahrene Weitwanderer. Für Langstrecken-Novizen aber immer noch eine Risikounternehmung. Denn im Gegensatz zu basisgestützten Tagestouren sind hier weder Abkürzungen möglich noch Ausreden à la „Ich bleib dann heut mal auf der Hütte, geht ihr ruhig." Schließlich will und muss die nächste Unterkunft, die man, zumindest für die Wochenendtermine im Juli und August, dringend monatelang im Voraus gebucht haben sollte, erreicht werden. Und zwar idealerweise vor Sonnenuntergang und Schließung der Hüttenküche, sprich bis 19 Uhr.
Überwiegend flache Wege
Klingt machbar, erweist sich aber schon nach kurzer Wanderzeit als ambitioniertes Ziel. Denn die ersten Kilometer hinter Scharnitz verlaufen zäh. Die Erwachsenen vorneweg und frohen Mutes, dass es nach der Durchquerung des an der hier geradezu türkis schimmernden Isar gelegenen, hübschen Grenzortes und dem ersten Anstieg auf der Straße relativ bald in einen autofreien, überwiegend flach verlaufenden Weg mit tollem Blick ins Karwendeltal übergeht. Doch die beiden Zwölf- und 14-Jährigen tun sich mit der Sommerhitze und dem Laufen schwer. Rasch werden die Abstände zwischen den Snack-Pausen kürzer und die Zweifel größer, ob sich in diesem Schneckentempo die 18 Kilometer und 850 Höhenmeter überhaupt im Hellen meistern lassen. Doch Kinder stecken, siehe oben, voller Überraschungen. War es das erfrischende Fußbad im eisigen Karwendelbach, die Aussicht auf Kaiserschmarrn oder einfach das Reinkommen in den richtigen Laufrhythmus? Egal, plötzlich dreht die Stimmung. Putzmunter schreiten die Mädchen nun auf dem auch bei Radlern beliebten Forstweg voran, die Erwachsenen kommen gerade so hinterher, haben aber dennoch genug Muße, den Blick in die traumhafte Felsenwelt schweifen zu lassen, zu Wasserfällen, Almen und mächtigen Kalksteinmassiven.
Leicht ansteigend führt die Route schließlich vorbei an der aufgegebenen Larchetalm Richtung Talschluss, wobei unser Tagesziel, das wie ein Adlernest hoch oben am Fels thronende Karwendelhaus schon von Weitem sichtbar ist. Dadurch wird auch klar: Der letzte Anstieg wird happig. Statt auf der Forststraße Kehre um Kehre zu nehmen, wechseln wir für die letzten 300 Höhenmeter auf einen Steig, der sich durch die Büsche schlängelt und schließlich über eine Kuhweide bis zur ersehnten Alpenvereinshütte führt. Das macht das Ganze zwar nicht weniger anstrengend, aber abenteuerlicher und vergnüglicher. Und die Spezi auf der Sonnenterrasse noch leckerer! Erst recht bei diesem Traumblick über das gesamte Tal. Enttäuschend nur, dass kein Kaiserschmarrn serviert wird. Dafür gibt es (gerade noch) ein warmes Bergsteigeressen und wertvolle Informationen vom Hüttenwirt Andreas Ruech, der traditionell um halb acht die Wetterprognose für den morgigen Tag verkündet – in diesem Fall „Sonne, Sonne, Sonne" – sowie Tipps gibt für Gipfelbegehungen.
Wir jedoch lassen es tags darauf gemütlich angehen, frei nach dem Motto: Wandern kann auch ohne Gipfelbesteigung erhebend sein. Das bewahrheitet sich schon nach zehn Wanderminuten, als sich am 1.800 Meter hohen Hochalmsattel ein weiter Blick ins Johannestal auftut. In der Ferne und rechter Hand: hohe Bergspitzen, steile Felswände, Dolomiten-Feeling. In der Nähe: liebliche Blumen und ein sich vom Radtrail abspaltender Fußgängerpfad, der an rauschenden Bächlein und sich in Sträuchern versteckenden Kühen vorbei bergab zum Kleinen Ahornboden führt. Dessen Name ist Programm: Überall auf der idyllischen Hochebene stehen uralte Ahornbäume, eingerahmt von den massiven Felswänden der Birkkar-, Kaltwasserkar- und Moserkarspitze. Wie muss das erst im Herbst toll aussehen, wenn sich die Blätter färben? Doch selbst jetzt im Hochsommer erscheint uns der Ort wie ein Paradies. Das Beste: Hier geht es längst nicht so zu wie beim Großen Ahornboden zwei Längstäler weiter – weil dort Straßenanbindung, hier nur Wander- und Radweganbindung. Frisch gestärkt geht es vorbei am Hermann-von-Barth-Denkmal, das an den berühmten Karwendel-Bergsteiger erinnert, wieder aufwärts. Meistens durch Wald, gelegentlich über Geröllfelder, schließlich über Wiesen. So locker-flockig die ersten beiden Stunden heute rumgingen, so anstrengend ist insbesondere der letzte, steile Anstieg zur Falkenhütte. Jetzt sind Motivationsparolen gefragt, um die Mädchen von wieder aufflammenden Blasenschmerzen und Erschöpfungserscheinungen abzulenken. Also werden Rucksäcke abgenommen, Witze erzählt und – erneut – Kaiserschmarrn-Portionen in Aussicht gestellt. Der größte Ansporn ist jedoch, als die DAV-Hütte (die 2018 generalsaniert und daher bis 2019 geschlossen bleibt) ins Blickfeld rückt. Die Mädchen sprinten geradezu voran und sind wie am Vortag die Ersten am Etappenziel. Dort entschädigt allein die Kulisse für den Schweiß der letzten halben Stunde. Eindrucksvoll bauen sich direkt hinter dem ehrwürdigen Schutzhaus die Laliderer Wände auf, etwa 900 Meter aufragende Steilwände, die bis knapp unter die Gipfel auf 2.600 Höhenmetern reichen. Eine Kulisse zum Niederknien. Und zum Extremklettern. Gut für alle mit Bodenhaftung: Am Fuß der Felswand, etwas tiefer als die Falkenhütte, schlängelt sich ein Wanderweg entlang. Da geht es für uns morgen weiter. Jetzt aber geht es erst mal ab in einen der Liegestühle. Relaxen, dann Katzenwäsche (in Ermangelung von Duschen) und Betten beziehen, wobei wir uns den „Luxus" eines Sechsbettzimmers gönnen, allein der Privatsphäre wegen. Gruppenatmosphäre tanken wir dann in der netten Stube. Dort gibt es jede Menge ausleihbare Spiele, die den Kontakt zu anderen Familien mit Kindern beschleunigen. Was es nicht gibt: Kaiserschmarrn. Wir merken uns: Ab sofort keine diesbezüglichen Versprechungen mehr.
Kaiserschmarrn auf 2.000 Metern Höhe
Tag drei, wir sind im Flow! Munter geht es mal runter, mal rauf und dann lange runter zur Eng Alm. So erfreulich der neu gestaltete Großspielplatz samt Hängematten sowie das Gastronomieangebot in dem eindrucksvollen Almdorf am Ende des Rißtals ist, so schnell zieht es uns wieder bergauf. Einfach zu viel los hier! Nein, dann lieber den Wandertag auf der Binsalm (die eigentlich anvisierte Lamsenjochhütte war bereits ausgebucht) ausklingen lassen. Mit Ziegenstreicheln, Kartenspielen, Panoramaglotzen. Erstaunlich, wie wenig man zum Zufriedensein braucht. Umso nerviger dann die etwas aufdringliche Musikbeschallung am späten Abend und der wenig rücksichtsvolle Lärm mancher Gäste am frühen Morgen. Wir sind uns einig: Auf einer Alpenvereinshütte würde das nicht passieren.
Die Gutwetterphase scheint endgültig rum zu sein. Aus dem anfänglichen Tröpfeln wird immer stärkerer Regen. Andererseits hat so ein nebelverhangener Tag freilich auch etwas, sorgt er doch für eine ganz besondere, mystische Stimmung! Aber machen wir uns nichts vor: Auf Dauer macht das nicht wirklich Spaß. Daher freuen sich alle, als die „Lamsenjochhütte", deren spektakuläre Lage auf über 2.000 Metern wir nur erahnen können, erreicht ist. Raus aus den nassen Klamotten, ran an den Ofen und – juhu, hier gibt es Kaiserschmarrn! Die Stimmung steigt. Bis zu dem Moment, wo allen gewahr wird: Wir müssen wieder raus in den Regen. Es warten noch einige Wanderstunden (und die als märchenhaft beschriebene Wolfsklamm) bis nach Stans. Auch wenn selbst die Erwachsenen jetzt am liebsten sagen würden: „Wir bleiben heut’ mal auf der Hütte. Geht ihr ruhig."