Europa bereitet sich auf die nächsten Wahlen vor und arbeitet sich an den bekannten Problemen ab. Sven Giegold, Grüner Europaabgeordneter, über europäische Solidarität, Deutschlands Verantwortung und Reformen für ein Europa der Zukunft.
Herr Giegold, Brexit, Trump, Erdogan, Flüchtlinge, Nationalismus, das sind ur einige der zahlreichen Herausforderungen, mit denen die EU konfrontiert ist. Gibt es aus Sicht des EU-Parlaments eine Prioritätenliste der Probleme?
(Lacht). Ich finde, bei allen Problemen, dass man immer damit beginnen muss zu fragen, wo wir stünden, wenn es die EU nicht gäbe. Das kann man sich nämlich fast schon nicht mehr vorstellen. Wenn wir früher starke Spannungen hatten, gab es Krieg in Europa. Heute gibt es keinen Krieg sondern Europäische Institutionen, in denen wir uns unglaublich ärgern, wenn bestimmte Probleme nicht gelöst werden können. Das ist dann für uns Krise. Bei allem Reden über die Schwierigkeiten muss man immer daran denken: Man müsste die EU sofort erfinden, wenn es sie nicht gäbe. Was derzeit am meisten für Spannung sorgt, ist die Unfähigkeit, zu einer solidarischen und gleichzeitig ordnenden Migrations- und Flüchtlingspolitik zu kommen.
Wie sollte die im Konkreten aussehen?
Wenn man das Versprechen aufrechterhalten will, dass die Grenzen offen bleiben, die Freizügigkeit gewährleistet wird, dann muss man sich einigen, wer hineinkommt. Die Abschottung widerspricht internationaem Recht, ist aber leider das, worauf sich inzwischen auch die Bundesregierung eingelassen hat. Stattdessen sollten wir uns lieber mit den Ländern zusammen tun, die nach wie vor an einer humanen Flüchtlingspolitik und einer vernünftigen Migrationspolitik Interesse haben, und nicht immmer beides durcheinander werfen.
Das heißt, ein Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten?
Das haben wir heute schon in vielen Bereichen. Nicht alle haben den Euro, nicht alle haben die Europäische Staatsanwaltschaft, das wird auch so weiter gehen. Wir tun alles, damit möglichst viele dabei sind, aber wir sollten uns nicht durch Einstimmigkeit aufhalten lassen. Vielmehr müssen die vorangehen, die das möchten. Das sind nicht immer dieselben Länder. Aber das ist heute längst Realität.
Nach dem Brexit-Votum hat unter anderem der saarländische Europaabgeordnete Jo Leinen einen neuen Konvent, also Gespräche über eine neue Europäische Verfassung, angemahnt. Warum ist daraus nichts geworden?
Grundsätzlich braucht Europa eine neue Verfassung, in der zum Beispiel das Einstimmigkeitsprinzip für alle Bereiche abgeschafft wird, in denen es das noch gibt, in dem man das Parlament aufwertet, in dem man die sozialen Rechte stärkt, in denen Einseitigkeiten etwa in der Wirtschaftspolitik oder auch der Rüstung korrigiert werden. Aber wenn wir jetzt die Verträge aufmachen, bekommen wir mit Sicherheit nicht mehr Demokratie in Europa, sondern mehr Nationalismus. Deshalb glaube ich, dass jetzt nicht die richtige Zeit ist, über einen neuen Verfassungsvertrag zu verhandeln.
Ist dieser Nationalismus eine den Umständen geschuldete Zeiterscheinung oder als dauerhafte Tendenz ernst zu nehmen?
Das ist absolut ernst zu nehmen. Allerdings haben wir es alle in der Hand, dafür zu sorgen, dass es eine Zeiterscheinung bleibt. Die Spannungen auf der Welt nehmen zu, damit auch die sozialen und sicherheitspolitischen Unsicherheiten. Das erzeugt bei vielen Menschen einen Wunsch nach Sicherheit und damit erscheint der Rückzug ins Nationale attraktiv. Das ist absurd, denn die großen Unsicherheit kann kein Nationalstaat mehr beheben. Und die Technik, Schwierigkeiten auf Minderheiten abzuschieben und sie zu Sündenböcken zu machen, kennen wir aus der deutschen Geschichte. Deswegen kommt es darauf an, die Probleme zu lösen, aber auch ganz klar Grenzen zu benennen. Wenn Rechtspopulisten mit Rechtsextremen zusammen demonstrieren und Hetzjagden auf Ausländer stattfinden, hat das mit unserem Deutschland nichts zu tun.
Die Bundesregierung hat inzwischen den Vorschlag des französischen Präsidenten Macron aufgegriffen. Es laufen Verhandlungen über „Elysée 2.0“. Eine wiedererstarkte deutsch-französische Achse als Hoffnung für Europa?
Europa wird nur zusammenhalten, wenn Deutschland lernt, solidarischer zu sein und sich jeder Arroganz zu enthalten. Es gibt eine wachsende Meinung, auch in pro-europäischen Parteien, nach dem alten Motto: „Am deutschen Wesen wird die Welt genesen“. Sie glauben, dass man es überall so machen müsse wie Deutschland, weil dort die Wirtschaft läuft. Dabei wird vergessen, dass die erfolgreiche deutsche Wirtschaft zu relevanten Teilen darauf beruht, dass andere in der Krise stecken. Der deutsche Staatshaushalt wurde nicht durch Sparprogramme saniert. Wir haben einen Exportüberschuss, der nicht von Dauer sein kann, weil andere Länder sich dafür bei uns verschulden müssen. Deshalb ist es notwendig, die Arroganz abzulegen und sich darauf zu besinnen, dass wir jeden Cent, den wir nach Europa geben, zehnfach zurückbekommen, ökonomisch, und kulturell sowieso.
Das erweckt den Eindruck, dass aus Berlin vor allem eine deutsche Politik gemacht wird. Gibt es eine echte deutsche Politik für Europa?
Die gibt es, aber aus einem völlig falsch verstandenem deutschen Interesse. Wenn Europa stärker wird, mag sind das Investitionen, aber die zahlen sich aus. Es gibt Leute, deren Interesse an Europa mit jedem Cent sinkt, den es erst einmal kostet. Dabei geht es auch um die Frage, was wir unseren Kindern vererben. Wir müssen viel langfristiger denken: Ohne ein geeintes Europa werden wir global mti unseren Werten und Interessen nicht mehr mitspielen können. Wer das riskiert, orientiert sich gar nicht an deutschen Interessen, sondern an der Dummheit der Kurzfristigkeit. Umso bedenklicher ist, dass auch die zweite große Koalition europapolitisch nur Stillstand produziert. Das hat die erste große Kolalition schon getan. Dann hat die SPD erfreulicherweise einen Koalitionsvertrag für Europa durchgesetzt, der wird aber nicht umgesetzt. Stattdessen geht alles so weiter. Bundesfinanzminister Scholz zaudert bei allem, was mit Geld zu tun hat, von der Besteuerung transnationaler Unternehmen, der Transaktionssteuer, der Digitalbesteuerung bis eben hin zu einer wirklichen gemeinsamen Finanzpolitik. Es geht also alles so weiter, aber es hilft nichts, nur kurzfristig auf die AfD und einige ängstliche Wähler zu schauen.
Mit welchem Konzept treten die Grünen zur Europawahl an?
Wir werden einen ganz dezidiert proeuropäischen Wahlkampf führen und dabei auch nicht zurückschrecken, Dinge anzusprechen, bei denen andere ängstlich sind. Wir fordern beispielsweise einen eigenen Investitionshaushalt für die Eurozone plus einen europäischen Finanzminister, eine ökologische Investitionsoffensive und gemeinsame Sicherheitsbehörden, die europaweit Kriminelle verfolgen können. Wir sind also bereit, in Europa zu investieren und dafür Geld auszuzugeben. Wir sind auch der Meinung, dass Deutschland dazu einen überproportional hohen Anteil leisten sollte, weil Deutschland in den letzten Jahren viel von Europa profitiert hat. Wir brauchen für die Europapolitik mehr einen Geist von Macron. Aber wir werden in ökologischen Fragen dezidiert grün bleiben, also nicht wie in Frankreich, wo es mit der Atom- und der Agroindustrie so weitergeht wie bisher.
Macrons europäische Anfangseuphorie scheint doch nachgelassen zu haben und er wirkt entzaubert.
Ja, das liegt aber unter anderem auch daran, dass aus Deutschland immer nur Nein kommt. Und man muss wirklich aufpassen, dass diese Neins aus Berlin den Front National nicht noch stärker machen, als er ohnehin schon ist.