Ein einiges, aber kein vereinheitlichtes Europa: Darauf will Nicola Beer, Spitzenkandidatin der FDP für den Europawahlkampf, hinarbeiten. Die EU-Staaten sollen selbst bestimmen können, wie viel Einwanderung sie zulassen wollen, sagt sie. Und sie plädiert dafür, auch im deutschen Interesse, die Brexit-Daumenschrauben nicht allzu sehr anzuziehen.
Frau Beer, nach gut einem Jahr Bundestag soll es weitergehen in Richtung Europa-Parlament – war die Bundespolitik denn so langweilig?
Nein, natürlich ist und war es nicht langweilig im Bundestag. Ich habe vier Jahre lang hart gemeinsam mit der ganzen Partei gekämpft, dass wir wieder in das Parlament zurückkehren. Ich bin aber zutiefst davon überzeugt, dass die Europawahl im kommenden Jahr für uns eine Schicksalswahl ist. Die Menschen in Deutschland sind ganz überwiegend von Europa überzeugt, sie fühlen sich in Europa wohl. Aber die Skepsis gegenüber der Europäischen Union nimmt zu. Der Populismus quer durch alle Mitgliedsstaaten steigt, und es gibt immer mehr führende Politiker in Europa, die ganz offenbar dieses geeinte Europa zu Fall bringen wollen. Da gilt es für eine leidenschaftliche Europäerin wie mich, mich selbst einzubringen mit den Ideen der Freien Demokraten. Wir wissen, dass wir die Europäische Union reformieren müssen. Wir müssen jetzt beherzt eingreifen und Vorschläge machen, wie wir dieses Europa wieder so auf die Füße stellen, dass es auch eine gute Zukunft hat.
Aber wie wollen Sie denn in solchen populistischen Zeiten sachorientierten Wahlkampf machen?
Für mich geht es da letztendlich um die richtigen Zukunftsperspektiven. Die Populisten schüren ja nur Zukunftsängste, sie setzen auf die Urängste der Menschen. Sie erreichen so vor allem die, die aus ihren traditionellen Bindungen gerissen wurden, die nicht wissen, wie es weitergehen soll. Aber die Populisten haben keine Lösungsvorschläge: Sie bauen auf Ängste, ob gegen den Euro, ob gegen Fremde oder generell gegen Veränderungen. Wir dagegen wollen die Menschen auf diese Veränderungen vorbereiten, wir wollen sie für die anstehenden Aufgaben starkmachen. Wir sehen all die Veränderungen und wir wollen den Menschen zeigen, wie sie die Veränderungen mitgestalten können. Ganz wichtig: Wir können das alles nur gemeinsam in Europa gestalten.
Was kommen denn für grundlegende Veränderungen auf uns zu?
Na, wir merken ja schon jetzt die Auswirkungen der Globalisierung und der Digitalisierung. Und wir merken auch, dass wir darauf noch nicht wirklich gut vorbereitet sind. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern für die allermeisten EU-Staaten. Und damit wir nicht nur die Gefahren und Risiken sehen, sondern auch die Chancen, die sich da für jeden ergeben, müssen wir einiges ändern. Vor allem in unserem Bildungssystem. Aber wir müssen auch unseren Binnenmarkt um die Bereiche Energie und Digitales erweitern und auch den Freihandel wieder aktiver nutzen.
Immer wieder gibt es ja Spaltungstendenzen in Europa, am klarsten natürlich aktuell beim Brexit. Was hat Ihrer Meinung nach zu diesem sehr unschönen Szenario geführt?
Dass es so weit kommen konnte, hat sicherlich viel mit dem schlechten Zustand zu tun, in dem sich die Europäische Union befindet. Sicherlich kommt entscheidend dazu, dass nicht richtig zugehört wurde. Die Briten wollen über sich selbst bestimmen, beispielsweise bei der Arbeitslosenversicherung, bei der Wirtschaftsmigration. Sie wollten selbst darüber bestimmen können, wer in ihr Land einwandern darf und wen sie nicht dahaben wollen. Dass da nicht richtig zugehört wurde, ist übrigens auch ein Mitverschulden der Bundesregierung – und nun müssen wir schauen, wie wir mit dieser Situation umgehen.
Was muss getan werden?
Zwei Dinge müssen nun angegangen werden: Wir müssen wieder ein faires Verhältnis zu Großbritannien herstellen, nach Möglichkeit ein sehr enges. Denn daran haben gerade wir Deutschen ein sehr großes Interesse, aus historischer Sicht, aber auch als Exportland – gerade uns Deutschen schadet in dieser Hinsicht der Brexit ungemein. Gleichzeitig sollten wir Festlandeuropäer die Entscheidung für den Brexit auch als Weckruf verstehen: Wir brauchen Reformen in der Union, eine grundsätzliche Erneuerung unserer Gemeinschaft. Wir müssen grundsätzlich darüber nachdenken und auch kritisch diskutieren, warum es zum Brexit gekommen ist.
Sollten wir also Nachsicht haben mit den Briten und ihrer Entscheidung?
Das hat mit Nachsicht nichts zu tun, sondern es macht für unser aller Zukunft überhaupt keinen Sinn, als Abschreckung den Briten jetzt einen besonders schmerzlichen Austritt aus der EU zu bereiten, die Daumenschrauben also immer fester anzuziehen. Das wäre nicht sinnvoll – nicht für die Menschen auf der Insel und für uns schon gar nicht. Wir müssen vielmehr daran arbeiten, die Europäische Union besser zu machen, sodass es zukünftig gar keine Austrittswünsche mehr gibt.
Für Sie sind also nicht so sehr die widerspenstigen Briten, als vielmehr die europäische Politik ausschlaggebend für die Brexit-Entscheidung?
Es hat sich ja immer wieder gezeigt: Die Staats- und Regierungschefs in der Europäischen Union haben sich im Lauf der Zeit immer weniger auf die großen Fragen konzentriert, sondern sich in regionale Belange eingemischt und Antworten auf Dinge gegeben, nach denen sie gar nicht gefragt wurden. Da fühlten sich die Briten klar bevormundet. Diese Skepsis teilen mittlerweile viele Menschen in ganz Europa. Deswegen ist es so wichtig, dass wir Europa jetzt gemeinsam reformieren und damit eine Einheit in Vielfalt leben. Ich möchte gern in einem einigen, aber nicht in einem vereinheitlichten Europa leben. Denn eines dürfen wir niemals vergessen: Europa schöpft seine Stärke gerade aus den jeweils unterschiedlichen Kulturen und Lebensweisen.
Nach den Briten geht ja aktuell auch Italien auf Konfrontationskurs …
Das ist aber mit dem Brexit überhaupt nicht zu vergleichen. Sie haben in Italien Regierungspolitiker, die wollen die EU in sich zusammenstürzen lassen. Was wir da gerade mit einer rechts- und linkspopulistischen Regierung erleben, ist ja ein einmaliger Vorgang innerhalb der EU. Sie verstößt absichtlich gegen das Regelwerk für eine solide Haushaltspolitik. Darum sind wir als FDP der Meinung, dass die EU ein Defizitverfahren gegen Italien einleiten muss. Es kann nicht sein, das die anderen Mitgliedsstaaten die Lasten tragen, damit eine rechts- und linkspopulistische Regierung ihre Wahlversprechen umsetzen kann. Das geht einfach nicht, das können Sie niemandem mehr erklären. Es geht nicht darum, ob Schulden gemacht werden, sondern wofür. Und die italienische Regierung will Schulden machen, um zu konsumieren – und nicht, um zu investieren, um damit Arbeitsplätze und Wettbewerbsfähigkeit zu schaffen.
Italien ist ja auch eng verbunden mit einem weiteren Thema im anstehenden Europawahlkampf: Flüchtlinge und Migration. Wie ist Ihre Vision eines europäischen Einwanderungsgesetzes?
Als allererstes müssten Migration und Zuwanderung nach Deutschland und insgesamt nach Europa überhaupt erst mal gesteuert werden. Bis heute fehlt eine Koordination der Migration. Zwei Dinge sind dabei zu beachten: Wir Freidemokraten wollen die Freizügigkeit innerhalb Europas beibehalten. Dafür brauchen wir aber auch einen funktionierenden Schutz der europäischen Außengrenzen. Und dann müssen wir aber auch gemeinsam festlegen, nach welchen Kriterien wir zukünftig Zuwanderer nach Europa in unseren Arbeitsmarkt einladen, dafür brauchen wir feste Regeln.
Fallen unter diese Regeln auch diejenigen, die wirklich aus Not flüchten?
Klar ist, dass das Asylrecht, dass die Genfer Flüchtlingskonvention nicht angetastet wird. Doch darüber hinaus steht ja bei vielen der Wunsch, aus wirtschaftlichen Gründen zuzuwandern; und wir brauchen qualifizierte Zuwanderung. Dazu könnte ein Punktesystem dienen, in dem die berufliche Qualifikation, die sprachliche Fähigkeit, aber auch der Integrationswillen bewertet wird. Uns Freidemokraten ist es darüber hinaus aber auch sehr wichtig, dass die einzelnen Mitgliedstaaten selbst bestimmen können, wieviel Einwanderung sie zulassen wollen. Denn klar ist: Jede Gesellschaft hat ihre eigene Belastungsfähigkeit hinsichtlich der Integration. Diese darf nicht überstrapaziert werden, das wäre nur wieder Wasser auf die Mühlen der Populisten.
Also Zuwanderung ja, aber mit Hochschulabschluss – bitte keine Armutseinwanderung?
Nein. Es geht um Qualifikation, aber nicht nur um akademische Qualifikation. Was wir in Europa jetzt schon brauchen, sind ja auch Handwerker, Pflegepersonal, Dienstleister, also das ganze Spektrum an Fachkräften auch ohne akademischen Grad. Wir haben da den Vorschlag der sogenannten „Chancen-Card". Damit könnten Arbeitskräfte zunächst einmal für zwölf Monate einreisen, vorausgesetzt, sie können sich selbst finanzieren, beziehen also keine Sozialgelder. In diesem Jahr können sie schauen, welche Möglichkeiten sie auf dem europäischen Arbeitsmarkt haben. Das heißt aber andererseits auch, dass wir das System der Arbeitserlaubnis vereinfachen müssten. Bisher gibt es in Europa nur die „Blue Card" für Akademiker, wir wollen sie für alle Berufsgruppen einführen. Mit diesen beiden Instrumenten würden wir dann auch eine Einwanderung in die Sozialsysteme verhindern.
Ende Mai ist EU-Wahl. Wenn Sie dann als FDP-Spitzenkandidatin im EU-Parlament angekommen sind: Was wird Ihr Hauptanliegen sein?
Es muss ein Sinneswandel einsetzen. Ich möchte sehr gern, dass Europa wieder als ein Kontinent der Chancen begriffen wird. Dazu müssen wir unsere Wettbewerbsfähigkeit steigern. Wie gesagt hat das sehr viel mit unserem Bildungssystem zu tun. Wir müssen mehr auf Innovation, auf Forschung, aber auch auf den Austausch zwischen den Menschen setzen. Wir Europäer haben nachgelassen, uns gegenseitig zu begegnen, miteinander zu sprechen. Die Diskussionen zwischen den EU-Mitgliedern sind eher gereizter geworden, wir haben klare Spaltungstendenzen zwischen Ost und West, Nord und Süd, kleinen und großen Staaten. Das müssen wir dringend überwinden, wenn wir 27 Nationen gemeinsam die anstehenden Herausforderungen bewältigen wollen.
Haben Sie ein konkretes Beispiel, wie man das anpacken könnte?
Eines meiner Herzensanliegen ist es, dass wir die jungen Menschen wieder mehr in den Austausch bringen. Dass es zum Beispiel einen Rechtsanspruch gibt, sechs Monate in einem anderen Mitgliedsstaat als Schülerin oder Schüler zu verbringen. Und das eben nicht nur als Gymnasiast, sondern dieser Rechtsanspruch sollte für alle Schüler gelten, von Hauptschule bis Berufsschule. So lernen schon die jungen Menschen andere europäische Kulturen und Lebensweisen kennen.