Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Aber Totgesagte leben bekanntlich länger. Klar ist: Die alten Volksparteien brauchen mehr als bloß Erneuerung, wenn sie dem eigenen Anspruch gerecht werden wollen.
Wenn schon die Satiriker der „Heute Show" zum „Abschiedsfest der Volksparteien" einladen, scheint ja alles geklärt und der Rest nur eine Frage der Zeit. Der Niedergang der Volksparteien scheint besiegelt, die Schlagzeilen darüber überbieten sich. Ein Blick auf Wahlergebnisse und Umfragen ist hinreichend Beleg für die These vom Abschied auf Raten.
Die SPD tut sich schon lange schwer, der kurze Schulz-Hype scheint im Nachhinein wie ein letztes Aufbäumen. Das Mindesthaltbarkeitsdatum der großen Traditionspartei scheint abgelaufen. Nicht weniger als sechs Vorsitzende hat die Partei seit der Ära Gerhard Schröder (2004) verbraucht, die Interimszeit von Olaf Scholz bis zur Wahl von Andrea Nahles nicht mitgerechnet. Dagegen wirkte die Union lange als Hort der Stabilität. Vorbei aber auch die Zeiten, dem selbst gesetzten Anspruch als Volkspartei, bei Wahlergebnissen die „4" vorne stehen zu haben, gerecht zu werden. Derweil werden die Grünen mit derzeit „20 Plus" schon als neue Volkspartei gehandelt, und die AfD ernennt sich gleich selbst dazu. Linke und FDP halten sich aus diesem Wettbewerb raus.
Die Wahlergebnisse korrespondieren mit der Mitgliederentwicklung. Seit 1990 haben sich die großen Parteien halbiert, die SPD schrumpfte von knapp 950.000 auf rund 450.000 Genossen, die CDU von 790.000 auf knapp 420.000 Mitglieder, dazu die CSU mit 140.000 (minus 40.000).
Zum Vergleich: Die Grünen weisen rund 60.000, die AfD rund 30.000 Mitglieder auf, nicht gerade Volksparteiquantität.
Zahlen sind der leicht sichtbare Teil der Entwicklung. Das andere ist der inhaltliche Anspruch. Der besagt nichts Geringeres, als dass Volksparteien für sich in Anspruch nehmen, gesellschaftliche Vielfalt widerzuspiegeln und Interessen unter einem einigermaßen verbindlichen weltanschaulichen Blickwinkel auszugleichen. Bei der Union seht dafür das „C", bei den Sozialdemokraten ließe sich das „S" als Solidarität lesen.
Mit ihren Arbeitsgemeinschaften beziehungsweise Vereinigungen suchen die Volksparteien bereits im internen Diskurs Interessenausgleich, bevor es vorzugsweise in Wahlkämpfen in die Auseinandersetzung mit der Konkurrenz geht. Das mag mit ein Grund sein, warum sich Volksparteien in der Wahrnehmung immer ähnlicher geworden sind, erst recht, wenn sie sich in der Mitte drängeln und dann in großen Koalitionen auf das gerade noch gemeinsam Mögliche verständigen.
Seit langem bestimmt der Pragmatismus
Zudem bestimmt seit langem Pragmatismus das politische Handeln. Im Klein-Klein ringen Fachpolitiker darum, Stellschrauben in den Systemen zu korrigieren, zu justieren, aber bloß nichts grundsätzlich infrage zu stellen. Auf Sicht fahren hat insbesondere den großen Koalitionen den Dauervorwurf eingebracht, sie würden nur „verwalten statt gestalten", was nicht gerade als sonderlich attraktiv und spannend empfunden wird. Daraus die Lehre zu ziehen, auch in großen Koalitionen sichtbar mit eigenen Positionen zu sein, führt zu Dauerdiskussionen, was wiederum vom Wahlvolk als Dauerstreit aufs Schärfste missbilligt wird.
Zum Niedergang hat zudem offensichtlich beigetragen, dass die großen Parteien verlernt haben, auf eine der Stärken zu achten, die sie von anderen Parteien unterscheidet: die eigene Basis, vor allem die, die sich in Kommunen zumeist ehrenamtlich engagiert und aufreibt und dort hautnah erfährt, was Sache ist. Wer verlernt, darauf zu hören, verliert erst die Bodenhaftung und dann Mitglieder und Wahlen.
Gleichzeitig hält die Entwicklung zu einer sich immer stärker individualisierenden Gesellschaft unvermindert an, Einzelinteressen stehen zunehmend unversöhnlicher gegeneinander, verbindende Gemeinwohlinteressen treten in den Hintergrund. Sich in Bürgerinitiativen für im wahrsten Sinne des Wortes naheliegende Interessen einzusetzen, scheint vielen sinnvoller, als sich in mühsame Diskussionen und Kompromisssuchen zu stürzen.
Andreas Urs Sommer, Philosoph und Publizist, hält die Idee der politischen Repräsentation durch Volksparteien schlicht für nicht mehr zeitgemäß. Im Übrigen hält er auch wenig von der Aussicht, dass sich die Parteienlandschaft aufsplittet. Das würde zwar die arithmetische Möglichkeit erhöhen, dass Menschen die Partei finden, die ihren Interessen am nächsten kommt. Die Individualisierung konsequent zu Ende gedacht, bräuchte aber eigentlich jeder seine eigene Partei. Wobei man bei dieser zugespitzten Schlussfolgerung wissen sollte, dass Herr Sommer Schweizer ist und offenbar Volksabstimmungen liebt.
Volksparteien in der Art und dem Selbstverständnis, wie sie sich in Deutschland entwickelt haben, sind in dieser Form ziemlich einzigartig. Ob das so bleibt, hängt davon ab, ob es Parteien schaffen, das Raumschiff der „Berliner Republik" zu verlassen, den parteiinternen Diskurs nicht mit den wirklichen Sorgen der Menschen zu verwechseln, und neben der Erledigung aktueller Herausforderungen die eine oder andere politische Vision zu entwickeln, ohne Angst vor einem angedrohten Arztbesuch.