Weg von der Gesamtgesellschaft, hin zum Individuum: Dieser Trend schlägt sich auch im Wahlverhalten nieder. „Der Einzelne sucht genau auf ihn zugeschnittene Angebote", sagt der Demokratieforscher Wolfgang Merkel. Das macht die Parteienlandschaft bunter. Und die Regierungskoalitionen wackeliger.
Herr Professor Merkel, Sie sind Mitglied der Grundwertekommission der SPD. Kommen Ihnen da nicht manchmal die Tränen bei den neuesten Umfragewerten?
Nein, nicht gerade Tränen, aber froh stimmt es mich gewiss nicht. Das ist ja nicht überraschend, dass die SPD in einer extrem schwierigen Situation steckt. Aber es geht ihr ja nicht alleine so. Die Volksparteien sind generell massiv unter Druck.
Vom Ende der Volksparteien wurde vor zehn Jahren schon gesprochen – was ist heute anders?
Na ja, vor zehn Jahren noch nicht. Die öffentliche Debatte hat in Deutschland vor einem halben Jahr eingesetzt. Ich selbst habe 2013 für die Grundwertekommission über das Verschwinden der Volksparteien geschrieben. Was heute anders ist: Der Niedergang hat mit voller Wucht auch Deutschland erreicht. Und jetzt sind beide „großen" Parteien betroffen, Mitte-links und Mitte-rechts, also eben auch die CDU. Was sich in Frankreich oder den Niederlanden abgespielt hat, hat jetzt auch Deutschland erreicht.
Sind die Parteien durch die Großen Koalitionen Staatsapparaten nicht immer ähnlicher geworden? Sind sie am Niedergang selbst schuld?
Nein, das ist ein sekundärer Faktor, der nur auf Deutschland und Österreich zutrifft, wo Große Koalitionen lange das Regieren bestimmt haben und bestimmen. Primär ist: Unsere modernen Gesellschaften haben sich individualisiert. Das bedeutet: Der Einzelne hat den Wunsch, auf ihn zugeschnittene Produkte angeboten zu bekommen. Die häufig diffusen Programmangebote der Volksparteien passen nicht mehr. Die Wähler haben sich in viele unterschiedliche Schichten, Milieus, Gruppen und eben auch Individuen differenziert. Der eine will mehr Ökologie, ist aber an Umverteilung nicht interessiert, also wählt er die Grünen. Wieder ein anderer ist dafür, das Geldvermögen umzuverteilen – der wählt die Linke. Und wenn ich für Grenzschutz, nationale Identität und mehr Sicherheit optiere, mache ich mein Kreuz bei der AfD.
Warum hat dieser Prozess des Niedergangs in Deutschland später eingesetzt?
Die Parteien hatten in Deutschland sehr hohe Mitgliederzahlen, das ist in anderen Ländern nicht so. Das bedeutet: Sie waren stärker verwurzelt in Gesellschaft und Staat. Das hat den Prozess verlangsamt.
Sind die sozialen Medien schuld an dem beschleunigten Niedergang?
Die sozialen Medien tragen dazu bei, den öffentlichen Diskurs zu privatisieren, zu trivialisieren und zu polarisieren. Die ohnehin fragmentierte Gesellschaft spaltet sich weiter auf. Verglichen mit den Rechtspopulisten sind die „etablierten" Parteien in den sozialen Medien weniger präsent. Die hemmungslosen Diskurse im Netz, die Fremdenfeindlichkeit, die Hetze gegen politische Eliten – das hat der AfD am meisten genutzt.
Bedeutet das Ende der Volksparteien das Ende der Demokratie?
Nein. Zwar wird manches komplizierter, aber auf der Mikroebene hat das Entstehen von neuen Parteien einen positiven Effekt für die Demokratie. Der Wähler kann aus einem größeren Angebot aus-„wählen", es gibt mehr Optionen, die Demokratie wird lebendiger, pluralistischer aus der Individualperspektive. Dafür wird die Regierungsbildung komplizierter. Koalitionen aus heterogenen Parteien sind schwieriger zu bilden, sie halten durchschnittlich auch nicht so lange. Die Zeiten, als eine große Partei mit einer kleinen zusammen die Regierung auf Jahre hinaus stellen konnte, sind vorbei. In einer heterogenen Gesellschaft wären die integrativen Volksparteien sehr nötig, aber genau da haben sie ihre Integrationskraft verloren.
Bekommen wir damit nicht Weimarer Verhältnisse, als im Reichstag neun Parteien saßen?
Die Deutschen haben die Neigung, immer wieder historische Parallelen in ihrer schwierigen Geschichte zu suchen. So wie Sie jetzt das Ende der Weimarer Republik zitieren. Berlin ist aber nicht Weimar, wir haben heute eine viel stärkere Zivilgesellschaft und demokratische Kultur. Es gibt keinen autoritär unterlaufenen Staatsapparat und keine reaktionäre Eliten-Allianz aus ehemaligen Adligen, Großgrundbesitzern und Militärs. Das Parteiensystem hatte sich nach 1930 in der Mitte gefährlich ausgedünnt; die beiden großen Parteien – NSDAP und KPD – besetzten die extremen rechten und linken Flügel. Heute ist eher das Gegenteil der Fall: Die Parteien krallen sich in der Mitte fest.
Was kommt nach den Volksparteien? In Frankreich und in den Niederlanden sind sie ja bedeutungslos geworden …
Wie ich schon sagte: Wir werden mehrere mittelgroße Parteien bekommen, die sich voneinander sichtbar unterscheiden. In Frankreich allerdings hat Macron die Parteien durch eine Bewegung ersetzt. Seine „République en marche" ist ganz stark auf ihn konzentriert, so etwas wie innerparteiliche Demokratie gibt es nicht. Macron persönlich hat die Kandidaten für das Parlament ausgewählt, das wäre in Deutschland undenkbar. Ähnlich ist es in Italien: Die postmoderne Fünf-Sterne-Bewegung ist stark auf eine Führungsclique konzentriert. Ihr Koalitionspartner, die „Lega", ist eine harte fremdenfeindliche Partei, noch rechts von der AfD.
Gehört die Zukunft den Populisten?
Nein. Wir erleben zwar in ganz Europa einen massiven Aufschwung rechtspopulistischer Parteien – das reicht bis über den Atlantik in die USA und nach Brasilien. Aber ich denke, unsere Demokratie ist stark genug, diese illiberalen Angriffe, wie sie jetzt aus Polen und Ungarn kommen, zu parieren.
Die Grünen sträuben sich zwar noch, aber glauben Sie, dass sie doch zu einer neuen Volkspartei werden?
Nein. Die Grünen haben einen massiven Schwerpunkt bei den Bessergestellten und gut Gebildeten unserer Gesellschaft. Sie können den unteren Schichten keine überzeugenden Angebote machen. Sie haben aber derzeit einen politischen Lauf. In den Umfragen sind sie wohl bei 20 und mehr Prozent, weil sie konsequent ihr Potenzial ausschöpfen. Aber ihr Programm ist für so breite Schichten nicht vermittelbar, dass sie auf 30 Prozent plus kommen könnten.
Werden wir in Zukunft lauter Klientel-Parteien haben: die Vegetarier, die Bibeltreuen et cetera?
Nein. Die Bibeltreuen und andere skurrile „Parteien" gab es ja bisher auch. Die werden auch in Zukunft keine Rolle spielen, weil ihr Potenzial zu gering ist. Wir haben heute dagegen eine Reihe von Parteien, die programmatisch unterschiedlich aufgestellt sind – von der FDP über die Linke bis zu den Grünen und der AfD. Das ist eine große Auswahl. Nur zwei Parteien sind wenig unterscheidbar geworden, weil sie sich nur an der Mitte orientieren und so immer ähnlicher geworden sind – CDU und SPD. Für die SPD war dies ein besonderer Fehler.