In den Krankenhäusern herrscht Pflegenotstand, die Stationen werden mit immer mehr Alterskrankheiten konfrontiert, und auch viele Seniorenresidenzen kommen nicht nach mit neuen Pflegeplätzen – denn sie finden nicht genug Fachkräfte. Und unsere Gesellschaft wird immer älter. Andreas Westerfellhaus, Bevollmächtigter der Bundesregierung für Pflege, zu möglichen Lösungswegen.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat es bereits angekündigt: 2019 wird das neue Pflegepersonal-Stärkungsgesetz in Kraft treten. Es soll mehr Pflegestellen und bessere Arbeitsbedingungen schaffen. Bereits Spahns Amtsvorgänger Hermann Gröhe hat mehrere Pflegereformen auf den Weg gebracht. Unter anderem wird bald die Ausbildung der drei Berufe Kranken-, Alten- und Kinderkrankenpflege zu einer generalistischen Ausbildung zusammengefasst. Doch angesichts des stetig steigenden Pflegebedarfs bei anhaltendem Fachkräftemangel in Deutschland erscheinen noch weitere Reformen nötig. Dazu hat sich Spahn einen Berater ins Ministerium geholt, der sich mit Pflege auskennt: Andreas Westerfellhaus. Der ehemalige Präsident der Bundespflegekammer hat selbst als Intensiv-Pfleger gearbeitet und eine Pflegeschule geleitet. Es ist davon auszugehen, dass viele seiner Ideen und Forderungen in Gesetze einfließen werden.
Herr Westerfellhaus, wie können wir den Pflegeberuf attraktiver machen und mehr Menschen in die Pflege bekommen?
Da beißt sich die Katze in den Schwanz: Viele Menschen verlassen den Beruf, weil sie sagen: Wir haben zu wenig Kolleginnen und Kollegen. Dieser Exodus muss gestoppt werden. Viele bedauern ja diesen Schritt und würden wiederkommen, wenn die Rahmenbedingungen besser wären. Also mehr Personal, bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen. Ich hatte das bereits in einem Fünf-Punkte-Programm angesprochen. Erster Schritt: mit einer Prämie werben. Zweiter Schritt: bessere Arbeitsbedingungen wie etwa andere Arbeitszeitmodelle. In Schweden zum Beispiel gibt es 80 Prozent bei vollem Lohnausgleich im Rahmen einer Vertrauensarbeitszeit, um die Regeneration zu verbessern.
Aber dann müssen Sie den Vollzeitkräften auch einen Bonus geben.
Ja, diejenigen, die durchgehalten haben, dürfen natürlich nicht benachteiligt werden, sondern sollten einen Treuebonus bekommen. Aber auch sie profitieren ohnehin von mehr Kollegen: Eine verlässliche Urlaubs- und Wochenendplanung zum Beispiel wird wieder möglich und es ist mehr Zeit für die Pflegebedürftigen. Ein weiterer Aspekt: Wie gehen wir mit Zuwanderung um? Wie können wir die, die zu uns kommen, qualifizieren und in den Beruf integrieren?
Die Regierung plant jetzt ein Einwanderungsgesetz. Sehen Sie eine Chance in einer Zuwanderung in den Pflege-Arbeitsmarkt?
Ergänzend auf jeden Fall. Was momentan aber stattfindet, ist ein unkontrolliertes Anwerben. Es gibt andere Ausbildungen in anderen Staaten. Wir müssen diese Menschen auf ihre Aufgaben vorbereiten und sie integrieren – das kostet Geld.
2020 wird die generalisierte Pflegeausbildung starten. Sie wird meist vonseiten der Krankenpflege begrüßt, von Altenpflege und Kinderkrankenpflege aber kritisch gesehen. Sie befürworten die Generalistik. Was ist so gut daran?
Schon in meiner Zeit als Präsident des Deutschen Pflegerates habe ich alles dafür getan, die Reform zu unterstützen. Ich sehe in diesem Pflegeberufereformgesetz überwiegend Chancen. Ich gestehe, dass das beschriebene Lager vorhanden ist und dass sich Menschen Sorgen machen, ob die Veränderungen vielleicht zu ihrem Nachteil sind. Aber: Die zu versorgenden Menschen ändern sich. Chronische Erkrankungen nehmen zu. Die Qualifikation der Pflegenden war in der Vergangenheit gut, kann aber nicht die Antworten für eine Versorgung von morgen liefern. Das Klientel von Altenpflegeeinrichtungen hat sich in den letzten 20 Jahren erheblich verändert. In Krankenhäusern werden zunehmend Menschen mit Alterserkrankungen behandelt. Ich kenne auch die Vorbehalte im Bereich der Kinderkrankenpflege. Ich weiß sehr wohl, Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Wobei das Pflegeberufereformgesetz ja alle Qualifikationsstränge zulässt. Und: Es gibt keinen anderen Beruf im Gesundheitswesen, der nicht zunächst eine generalistische Qualifizierung aufweist.
Qualifizierung ist das Eine. Jetzt hat aber zum Beispiel die Senioreneinrichtung Angst, dass das Krankenhaus ihr Pflege-Azubis abwirbt, weil es einen höheren Tarif zahlen kann.
Diese Situation hatten wir vor dem Reformgesetz schon in ähnlicher Form. Es kann nicht nur die bessere Bezahlung sein. Vielleicht kann das Krankenhaus andere Angebote machen, wie etwa eine Vollzeitbeschäftigung oder eine unbefristete Anstellung. Ich erfahre aber auch von Pflegekräften im Krankenhaus, die möchten lieber in die geriatrische Versorgung. Wir hatten immer schon Altenpfleger in Krankenhäusern oder Kinderkrankenschwestern in der Altenpflegeeinrichtung. Jetzt aber bilden wir generalistisch aus und die Auszubildenden können während der Ausbildung ihre Neigung erkennen und den Schwerpunkt entsprechend setzen. Ich glaube, auch in Zukunft kommt den Arbeitsrahmenbedingungen entscheidende Bedeutung zu, wie etwa durch einen flächendeckenden Tarifvertrag.
Eine flächendeckende Angleichung der Gehälter – auch zwischen den unterschiedlichen Pflegedisziplinen?
Ja. Es ist nicht hinzunehmen, dass es solche Verwerfungen gibt zwischen Altenpflege und Krankenpflege – und bei der Altenpflege auch noch regional: Das kann man niemandem erklären, warum man in Niedersachsen 400 Euro weniger verdient als in Nordrhein-Westfalen, und in Sachsen-Anhalt noch weniger.
Ich glaube, durch die generalistische Ausbildung wird das Spektrum dieses Berufsfeldes breiter, wird interessanter und lässt einen späteren Wechsel etwa vom Krankenhaus in die geriatrische Versorgung viel eher zu. Auch die geriatrische Versorgung in den somatischen Einrichtungen wird sich weiterentwickeln. Besonders hervorzuheben: Es wird zum ersten Mal berufsrechtlich abgesichert, was eine ausgebildete Pflegefachkraft machen darf. Auch ist die Befähigung zur selbstständigen Ausübung der Heilkunde festgelegt. Autonomie im Beruf ist ein Attraktivitätsmerkmal. Und das, finde ich, ist zielführend.
Mehr Autonomie bedeutet auch: Die Pflegekraft geht mehr in den Zuständigkeitsbereich des Arztes hinein. Was sagen denn die Ärzte dazu?
Zuständigkeitsbereich des Arztes - so würde ich es nicht definieren. Es geht um eine Neujustierung der Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsberufen. Wir brauchen eine Neuverteilung von Aufgaben. Es geht ja auch umgekehrt: Bisher brauchten Sie für Entscheidungen über die Dekubitus-Prophylaxe (gegen Wundliegen) eine Arztdelegation. Die Versorgung chronischer Wunden jedoch ist unbestritten eine pflegerische Fachkompetenz. Pflegende machen das seit vielen Jahren - aber nicht in eigener Verantwortung.
Mir geht es um eine Neudefinition der Aufgabenverteilung. Wir können nicht auf der einen Seite beklagen, dass wir in den Gesundheitsberufen immer weniger Fachkräfte haben für immer mehr Versorgungsleistungen. Da muss es erlaubt sein, über die bessere Verteilung der Aufgaben zu reden.
Wir haben international gute Erfahrungen, wir wissen, dass es die Versorgungsqualität erheblich verbessert. Da kommt manchmal der Vorwurf aus dem ärztlichen Bereich, Pflegende wollen jetzt kleine Ärzte werden. Es geht mir aber nicht um „Little Doctor", sondern um „Big Nurse". Pflegerische Kompetenz muss vollumfänglich und autonom im Zusammenspiel mit anderen Gesundheitsberufen zum Einsatz kommen.
Es geht auch um eine Neujustierung der Prozesse in der Versorgung. Das Zusammenspiel zwischen Ärzten, Pflegekräften, Pflegeassistenten und anderen Berufsgruppen. Wir müssen auf den Prüfstand stellen: Wer macht eigentlich in dem System was? Da gibt es Dinge, für die eine Pflegefachkraft zu hoch qualifiziert ist. Wir brauchen die Einbindung neuer Prozessstrukturen, der Telematik, der Digitalisierung, der Telemedizin. Es gibt also zusätzlich zum nötigen Zuwachs an Pflegekräften auch Entlastungsmöglichkeiten für sie. Wir müssen zum Beispiel Digitalisierung vorantreiben und Bürokratisierung abbauen, damit von der Leistung der Fachkräfte mehr beim Patienten ankommt.
Sie wollen Bürokratisierung abbauen. Gleichzeitig befürworten Sie die Einrichtung von Pflegekammern. Würde das nicht zu mehr Bürokratie führen?
Meine Gegner halten mir vor, was die Pflegekammern können, sei in Deutschland schon alles geregelt. Ich sage: Sie haben recht - aber eben in 62 verschiedenen Orten, Zuständigkeiten, Sozialgesetzbüchern ... Das nenne ich Bürokratisierung. Entbürokratisierung wäre: Sichtbarmachen, wie viele Pflegekräfte wir in Deutschland haben. Pflegekräfte sollen aus sich heraus sagen, was die Pflege zu einem Gesundheitswesen von morgen beitragen kann. Das kann niemand besser als sie. Dazu brauchen sie aber ein Sprachrohr, eine Plattform. Pflegende können in den Kammern ihre Weiterbildungsordnung maßgeblich mitbestimmen. Das haben bisher immer andere für sie gemacht – manchmal am Bedarf vorbei. Ich glaube, es ist keine Bürokratisierung, sondern eine Verschlankung insgesamt, mit klaren, transparenten Strukturen.
Ich denke, wir sollten jetzt schnell weitere Landespflegekammern auf den Weg bringen, drei haben wir jetzt, und dass es dann auch eine Bundespflegekammer geben muss. Denn Politik braucht klare Ansprechpartner, auch auf Bundesebene. Momentan sagen alle was zur Pflege – das gehört aber in die Berufsgruppe selber.
Die Kammern werden Geld kosten. Fehlt das nicht an anderer Stelle?
Die Pflegekräfte werden Mitgliedsbeiträge zahlen müssen, aber wenn ich als Pflegekraft will, dass sich etwas verändert, muss ich auch bereit sein, dafür einen Beitrag zu leisten. Ich denke, am Ende gibt es eine Win-win-Situation für die Pflege und für die zu versorgenden Menschen.
Sie denken also, die Pflegekammern werden auch zur Verbesserung der Versorgung beantragen?
Ja, weil sie sich einbringen in die Gestaltung des Gesundheitswesens von morgen.
Neulich sagten Sie auf einem Vortrag in Saarbrücken, Sie hätten neben dem angesprochenen Fünf-Punkte-Plan noch weitere Pfeile im Köcher. Dann schießen Sie doch mal los!
Kurzzeitpflege ist ein drängendes Thema. Wir brauchen mehr Kurzzeitpflegeplätze. Oft muss man über ein Jahr vorher reservieren, damit die Versorgung der Eltern während des Urlaubs gesichert ist. Wer nach einem Krankenhausaufenthalt dringend einen Platz braucht, für den ist keiner da. Kurzzeitpflege soll ja auch der Prävention und Rehabilitation von pflegenden Angehörigen dienen. Das funktioniert nur, wenn Plätze frei sind und dort professionelle Pflegekräfte arbeiten.
Was man auch angehen muss: Wenn wir mit Neugeborenen aus dem Krankenhaus kommen, hilft uns eine Hebamme. Etwas
Ähnliches könnten wir auch gebrauchen, wenn die Eltern aus der Klinik entlassen werden, wenn erstmals eine Pflegebedürftigkeit vorliegt. In Dänemark z.B. gibt es dann einen präventiven Hausbesuch. Ich möchte gerne einen Pflege „Ko-Piloten" etablieren, der die häusliche Pflege in Form wiederholter aufsuchender Begleitung und Beratung gezielt stärkt. Auch hier könnte man pflegerische Kompetenz einbringen und weiterentwickeln.
Sie möchten mehr Pflegekräfte pro Patient und bessere Bezahlung erreichen. Wegen des demografischen Wandels wird es auch immer mehr Pflegebedürftige geben. Wie lässt sich so was finanzieren?
Erstens haben wir unterschiedliche Finanzierungssysteme. Zur Altenpflege: Minister Spahn hat ja angekündigt, dass 0,5 Prozent Beitragserhöhung hier in die Versorgung gehen. Grundsätzlich brauchen wir eine Diskussion in Deutschland: Was ist uns die Pflege wert? Ja, das kostet Geld.
Neben den Beiträgen wollen Sie also auch die Bereitschaft erhöhen, diese zu zahlen?
Eine repräsentative Befragung hat gezeigt: Wir sind bereit, mehr zu zahlen, wenn es der Verbesserung der Versorgung dient. Das ist das Entscheidende. Langfristig aber müssen wir uns noch viel mehr mit dem Gedanken beschäftigen: Wie verhindern wir Pflegebedürftigkeit? Oder zögern sie zumindest länger hinaus? Oder wie bekomme ich jemanden eventuell wieder stabilisiert und aus der Pflege wieder heraus? Die Gedanken der Prävention und Rehabilitation sollten wir stärker in den Fokus nehmen.
Die Krankenhäuser sollen von den Ausbildungskosten komplett entlastet werden. Wie werden die Senioreneinrichtungen entlastet?
Es gibt einen Umlageschlüssel, der aus den gesetzlichen Krankenversicherungen, aus der Pflegeversicherung und aus den Ländern gespeist wird. Aus diesem Fonds wird die Ausbildung finanziert. Auch dies ist im neuen Pflegeberufe-Stärkungsgesetz enthalten.
Wie können wir, neben der Schaffung und Finanzierung von mehr Ausbildungsplätzen, die Pflege-Ausbildung attraktiver machen?
Die praktische Ausbildung ist bisher die Achillesferse. Wir müssen sehen, dass Ausbildung Ausbildung sein muss und nicht Arbeitszeit. Die Pflege-Azubis dürfen nicht verheizt werden. Sie brauchen Begleitung, müssen sich auch mal fallenlassen dürfen und aufgefangen werden.