In Kanada erschließen sich Ureinwohner den Tourismus. FORUM-Autor Steve Przybilla nahm an einer Kräuterwanderung teil – und lernte dabei auch etwas über die eigenen Vorurteile.
Da stehen wir also, knietief im Schnee, der eisige Wind heult, die Sonne spiegelt sich in den klaren Bergseen. Normalerweise wäre jetzt der Moment zum Innehalten. Den Anblick zu genießen, die Luft einzusaugen. Doch alles, an was ich denke, ist Jordans Hautfarbe. Seine kurzen Haare, seine trendige Wanderhose. Überhaupt, seine ganze Erscheinung: Jordan Holder, 34, sieht einfach überhaupt nicht so aus, wie ich mir einen „Indianer" vorgestellt hatte.
Wir stapfen durch die kanadischen Rocky Mountains, hundert Kilometer nördlich von Calgary. Schneetreiben, minus fünf Grad – ein warmer Tag für hiesige Verhältnisse. Jordan, den wir beim Vornamen nennen sollen, hat uns auf eine Heilkräuter-Wanderung mitgenommen. Er führt Städter durch den Wald, um sie mit der medizinischen Wirkung von Pflanzen vertraut zu machen – kulturelles Wissen, das sich die kanadischen Eingeborenen über Jahrtausende erworben haben.
Die meisten Weißen, ich eingeschlossen, haben vermutlich eine recht folkloristische Vorstellung von Ureinwohnern: Exoten, die mit Pfeil und Bogen, mit Farbe im Gesicht und Federn an den Hosenbeinen durch die Gegend laufen. Zugegeben, die indianische Tourismusbehörde Kanadas, die derartige Touren anbietet, konserviert genau dieses Bild. Schon auf dem Cover einer Info-Broschüre leuchten einem die bunten Federn entgegen. Fast könnte man meinen, die Natives hausten noch immer in Tipis und lebten hauptsächlich von der Jagd.
Tabak ist für die Cree eine heilige Pflanze
Umso erstaunter bin ich, als Jordan uns im Hotel abholt. Er fährt einen klapprigen Toyota Corolla, dessen Stoßstange mit Aufklebern übersät ist. Und, nun ja, Jordan sieht eben nicht wie ein Native aus, jedenfalls nicht so, wie ich mir einen vorstelle. Sonnenbrille, Bart, Rucksack. Ich schäme mich sogleich für den Gedanken, frage dann aber doch, von welchem Stamm er denn sei. „Von den Cree", antwortet er prompt, also von einer der größten indianischen Gruppen Nordamerikas. „In einem Reservat habe ich aber noch nie gelebt", schiebt er hinterher.
Da das geklärt wäre, kann’s losgehen. Direkt hinter dem Wanderparkplatz, am Beginn des Weges, kniet Jordan nieder. Er kramt ein Päckchen Tabak aus seinem Anorak, ballt die Faust und verstreut den Tabak im Wind. „Für uns ist das eine heilige Pflanze", erklärt er. „Mit dem Verstreuen ehren wir Mutter Natur." Jordans Cousine Kelly, 22, die ihn als Praktikantin begleitet, nimmt es mit der Ehre nicht so genau. Während Jordan die Zeremonie vollführt, steckt sie sich am anderen Ende des Parkplatzes eine Zigarette an. Ich wage nicht zu fragen, ob es der gleiche Tabak ist.
Mit knirschenden Schritten nähern wir uns dem Middle Lake, einem Gebirgssee, der in der Mitte halb zugefroren ist. Am Wegesrand trotzt eine amerikanische Zitterpappel dem Wind. Jordan reibt an ihrer Rinde, wodurch sich ein weißliches Pulver löst. „Das ist wie Sonnenmilch, Faktor 15", sagt er. „Wir können aber auch Bier draus machen, und wenn wir zu viel davon haben, stellen wir aus der Rinde Kopfschmerztabletten her." Er grinst, scheint es aber ernst zu meinen. „Diese Pflanze ist extrem vielseitig."
Einmal, erzählt Jordan, habe er wahnsinnige Zahnschmerzen gehabt. „So sehr, dass ich weinen musste, und das kommt wirklich nicht oft vor." Seine Mutter habe ihm daraufhin einen Naturkräuter-Trunk hergestellt. „Hat sofort geholfen", beteuert Jordan. „Ich war schon seit Jahren nicht mehr beim Arzt."
Hauptberuflich arbeitet der 34-Jährige als Survival-Trainer. Die Heilkräuter-Touren sind aktuell noch ein Zubrot, was sich in Zukunft aber ändern könnte. In ganz Kanada ist der „Indigenous Tourism" auf dem Vormarsch. Urlauber können mit Eingeborenen fischen gehen, Tipis bauen, Kanu fahren, wandern oder kulturelle Artefakte anschauen. Allein in der Provinz Alberta, in der Calgary liegt, soll der Indianer-Tourismus in den kommenden Jahren 1,5 Millionen Dollar zusätzlich einbringen. So plant es jedenfalls Ricardo Miranda, der Kulturminister von Alberta.
„Wie eine lebende Apotheke"
Jordans Firma, genannt „Mahikan Trails", gehört zu den Pionieren dieser Entwicklung. Bereits seit 1995 bietet das Familienunternehmen geführte Medizin-Wanderungen und Kräuter-Kochkurse an. Zur Zielgruppe gehören nicht nur weiße Kanadier und internationale Urlauber. Auch Eingeborene selbst, die vor lauter iPads und Schnellrestaurants den Bezug zu ihren Wurzeln verloren haben, sollen die alten Traditionen wieder lernen. Durchschnittlich zwei Touren pro Woche bietet Mahikan Trails nach eigenen Angaben an, Tendenz steigend.
Nächster Halt: Blautanne. „Sie ist wie eine lebende Apotheke", schwärmt Jordan. „Die Borke ist essbar, schmeckt aber nach Terpentin." Die antibakteriellen Eigenschaften machten die Blautanne zu einem guten Mittel gegen Kopfschmerzen. „Leicht entflammbar ist sie außerdem", ergänzt Jordan. „Damit kann man gut ein Feuer starten." Ich frage ihn, ob er die Tinktur im Alltag auch tatsächlich einsetzt. „Klar doch", antwortet Jordan, schwenkt dann aber doch wieder in die Vergangenheit ab. „Schon meine Großmutter war Medizinfrau. Wenn jemand eine Lungenentzündung hatte, konnte sie ihn damit kurieren."
Das nächste Gewächs ist eine Buffalo Berry, zu Deutsch: Schnabelnachtschatten. „Wenn Bären Hunger haben, fressen sie bis zu 250.000 ihrer Früchte am Tag", sagt Jordan. Er scheint meinen nervösen Blick zu bemerken und ergänzt: „Im Winter tragen die Sträucher keine Früchte." Gleichzeitig präsentiert er sein Bärenspray, mit dem wir Angriffe im Notfall abwehren können. Ein Indianer, der auf Bärenspray angewiesen ist? Schon wieder ist mir der Gedanke peinlich. Klar, auch Jordan würde wohl kaum die Zeit haben, eine spirituelle Verbindung zu dem Tier aufzubauen, falls uns ein Bär attackieren würde (was zum Glück aber fast nie passiert).
Wir erfahren nicht nur, dass Bären und Menschen die gleichen Nahrungsmittel vertragen, sondern auch, dass die Buffalo Berry im rohen Zustand toxisch für Menschen wirkt und früher auf Jagd-Pfeile gerieben wurde. Wir lernen, wie viel Vitamin C in Kiefernnadeln steckt („unheimlich viel") und dass man daraus einen ausgezeichneten Tee herstellen kann. Auch über die Vor- und Nachteile von Waldbränden referiert Jordan, als mache er jeden Tag nichts anderes. Nur ein Thema bleibt ein Tabu: „Über Politik reden wir nicht", insistiert der Medizinmann. Dabei gäbe es dazu vieles zu sagen – und zu lernen. Allein schon bei der Bezeichnung der Ureinwohner fängt es an. „Native Americans", wie in den USA, werden sie hier nicht genannt, und schon gar nicht „Indians". Stattdessen „First Nations" oder „Indigenous Canadians", manchmal auch „Aborigines". Welche Bezeichnung Jordan am liebsten ist? „Mir egal", antwortet er höflich. „Was zählt, ist nicht das Wort, sondern der Respekt, der uns entgegengebracht wird."
Damit aber enden seine politischen Äußerungen. Massaker wie in den USA hat es an der indigenen Bevölkerung in Kanada nie gegeben. Aber auch dort litten Zehntausende unter Zwangsumsiedlungen und Diskriminierung. Der größte Landkonflikt wurde erst 1993 beigelegt, als der damalige Premierminister Brian Mulroney das neue „Nunavut"-Territorium ins Leben rief. Seither genießen die 28.000 Inuit im Norden weitgehende Autonomie in einem Gebiet, das fast ein Fünftel des kanadischen Staates umfasst.
Ein Meilenstein ereignete sich im Jahr 2010, als sich die kanadische Regierung für die Zwangsumsiedlung der Inuit in die Arktis entschuldigte. Nach wie vor aber leiden viele Natives unter hoher Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit. Gerade der Tourismus – und das gestiegene Interesse an indigener Kultur – erscheint daher vielen als Rettungsanker. Inzwischen gibt es auch einige Fluggesellschaften und Hotelketten, die von Ureinwohnern betrieben werden.
Trotz aller Versöhnung schwelen einige Konflikte weiter. Vieles dreht sich um Geld und Umweltschutz – manche Weiße behaupten gar, selbst zu den First Nations zu gehören, um in bestimmten Schutzgebieten (wie die Ureinwohner) jagen zu dürfen. Auch ist der Tourismus längst nicht bei allen Stämmen beliebt. Manche fürchten den Kommerz und die Freizeitpark-Mentalität, die damit einhergehen könnte. Andere wollen ihre Traditionen am liebsten für sich behalten.
„Wir teilen nicht alle Geheimnisse"
Der Parlamentsabgeordnete für den Wahlkreis Canmore, Blake Richards, sagt: „Wir haben mehr Nachfrage nach dieser Art des Tourismus, als wir bedienen können. Die Leute suchen authentische Erlebnisse, die sie an ihre Wurzeln heranführen." Doch auch der Politiker räumt ein, dass es manchen nur „ums Herumfliegen mit dem Helikopter" gehe. Dennoch ist er überzeugt: „Viele Stämme haben ihre Gebiete in den schönsten Gegenden unseres Landes. Allein schon das macht einen Besuch lohnenswert."
Gerne hätte ich auch mit Jordan zumindest über einige dieser Themen gesprochen. Doch er schweigt beharrlich, holt stattdessen eine Thermoskanne mit Pfefferminztee hervor, um „Leib und Seele zu wärmen", wie er sagt. Am Ende lässt er sich zumindest zu einem Mini-Kommentar hinreißen: „Auch wir teilen nicht alle unsere Geheimnisse mit Fremden", sagt er. Wie genau man bestimmte Rezepturen herstelle, behielten die Ältesten für sich. Auch gebe man keine Anleitungen für berauschende Stoffe weiter. „Es ist ganz schön krass, was einige Pflanzen mit dir machen."
Nach zwei Stunden im Wald kehren wir mit durchnässten Wanderstiefeln und kalten Füßen auf den Parkplatz zurück. Wir haben viel erfahren über Pflanzen und ihre Wirkung, und wir haben eine faszinierende Landschaft durchstöbert. Im Rückblick aber hat mich eine andere Erkenntnis am meisten beeindruckt: Die Natives, das sind keine Fremden, keine Exoten, die sich für Touristen mit Pfeil und Bogen inszenieren. Es sind Leute wie du und ich, die genauso im Hier und Jetzt verhaftet sind wie jeder andere, auch wenn sie dabei ihre Traditionen bewahren. Auch eine Friedenspfeife (die sie hier nur „pipe" nennen), rauchen wir nicht, nur damit das geklärt wäre. Jordan lacht: „Das denken aber alle. So ist das mit den Klischees."