Eine Wimbledon-Siegerin und ein Weltmeister: Deutschland hat wieder echte Tennis-Stars. Vor allem Sascha Zverev steht erst am Beginn einer großen Laufbahn.
Glückstrunken schüttete Sascha Zverev Champagner über sein Team und etablierte Stars, wie den Ex-Fußballer David Beckham, in seiner Kabine aus. „Ein neuer Star ist geboren", zollte indes Wimbledon-Legende Boris Becker als Experte im englischen TV-Sender BBC dem 21-jährigen Deutschen Respekt für dessen Sieg beim ATP Masters-Tour-Finale in London, der inoffiziellen Weltmeisterschaft im Profitennis. Vor 23 Jahren hatte „BB" selbst diesen zweithöchsten Titel im Tenniskosmos – nach Wimbledon – gewonnen. Jetzt – endlich! – gibt es wieder einen deutschen Tennisspieler mit ähnlicher Strahlkraft, wie Becker sie hatte. Und mit Angie Kerber sogar eine Wimbledon-Siegerin, als Steffi-Graf-Nachfolgerin nach 22 Jahren, dazu. Kein Zweifel, dieses Tennisjahr brachte ein Comeback alter Hoch-Zeiten.
Mit 21 Jahren und vier Monaten ist Alexander („Sascha") Zverev der jüngste Tennisspieler, der in diesem Jahrzehnt das Saisonabschlussfinale der besten acht Profis des ATP-Tourjahres gewonnen hat: Der 1,98 Meter lange Aufschlagriese hat damit nicht nur alle Kritiker widerlegt, die behaupteten, der gebürtige Hamburger könne keine ganz großen Turniere gewinnen. Der derzeit beste deutsche Spieler, Nummer vier im Herren-Ranking, hat der Besiegbarkeit der Big Four einen großen Titel verpasst, indem er erst im Halbfinale Roger Federer und dann im Endspiel Novak Djokovic systematisch und strategisch ausgereift zerlegte. Unerschütterlich und aggressiv spielte Zverev auf Sieg, breakte und brachte als Erster im Finals-Turnier Djokovic ins Wanken. Der Deutsche triumphierte souverän mit 6:4, 6:3. Hochverdient, vor 18.000 Zuschauern, in der Champions-Atmosphäre der Londoner O²-Arena. Er besiegte die Nummer eins der Welt, obwohl „Nole" seit vielen Monaten und über die vorangegangenen Matches hinweg in der Form seines Lebens war, Sascha noch in der Gruppenspielphase zum Einknicken brachte, unangreifbar wirkte und ausgeruhter als der 21-Jährige war.
„Für Sascha ist der Sieg in London der größte Erfolg seiner bisherigen Karriere. Dass ihm dies zu einer Zeit gelingt, in der mit Federer, Nadal und Djokovic drei der Größten überhaupt noch aktiv sind und er zwei von ihnen sogar bezwingen kann, freut mich für ihn besonders", resümierte Klaus Eberhard, Sportdirektor beim Deutschen Tennisbund (DTB), der sehr gern mit dem Head of German Tennis, Becker – selbst mit sechs Grand Slam-Titeln und drei Tour-Finalsiegen der bislang erfolgreichste, männliche, deutsche Spieler – die Köpfe zusammensteckt und die aktuelle Szene analysiert.
Aufschlagriese mit 1,98 Meter
Sogar die öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland ließen es sich nicht nehmen, Zverevs und Kerbers Karriere-Hochzeiten zu besprechen, in Einklang mit Eberhards Worten: „Eine Wimbledon-Siegerin sowie einen ATP-Weltmeister in einer Saison feiern zu dürfen, ist für das deutsche Tennis sensationell."
Was für ein Jahr für Tennis-Deutschland, das nach den Verwöhn-Effekten durch die Massen an großen Titeln, die Becker und Graf in den 80er- und 90er-Jahren lieferten, viele gute und sehr gute Leistungen ihrer Nachfolger gar nicht mehr so recht wahrnahm. Bis Angie und Sascha das Projekt „stolze Tennisnation" energischer angingen. Mit beachtlichen Erfolgen schon in den Vorjahren, trotz eines Zwischentiefs für Kerber 2017, und mit ihren persönlichen Krönungen 2018. „Ich bin aus einem sehr schweren Jahr zurückgekommen, habe Wimbledon gewonnen und bin die Nummer zwei der Welt. Das gibt mir Mut und Selbstvertrauen für die Zukunft", sagte die deutsche Nummer eins im Frauen-Tennis nach ihrem Urlaub im November bei einem Sponsorentermin in Köln. Angelique hatte im Juli den ersten deutschen Titel im prestigeträchtigsten Tennisturnier, dem Grand Slam in Wimbledon, nach 22 Jahren des Darbens fürs Deutschland geholt.
Was für ein Jahr! Im Mixed, beim Hopman-Cup, sind Kerber und Zverev hochmotiviert in das Jahr 2018 gestartet. Dort unterlagen die zwei Deutschen noch den Schweizern Roger Federer und Belinda Bencic im Finale, hatten dennoch viel Spaß und hoben anschließend im gemeinsamen Flieger in ein für beide höchst erfolgreiches Tennisjahr ab.
Erfolg ist relativ. Bei Angie Kerber wurde von manchen bekrittelt, dass sie nach Wimbledon nicht weiter alles gewann, wie zum Beispiel die US Open. Eine Sache der Perspektive: siehe Maestro Federer, der in diesem Jahr nicht ganz so zufrieden mit sich selbst war wie 2017. Zumal er an seinem Hauptziel, einem weiteren Sieg in Wimbledon, scheiterte. Im Rasen-Mekka errang der Südafrikaner Kevin Anderson schon im Viertelfinale einen Fünfsatzsieg über den 37-jährigen, der bewusst wieder die Sandplatz-Turniere ausgelassen hatte.
Insgesamt hatte der beliebte Mega-Star Federer heuer bei 58 Matches und 48 Siegen, der Statistik von „Infosys ATP Beyond the Numbers" zufolge, eine Siegquote von 82,8 Prozent zu verbuchen. Der ATP-Finals-Champ Zverev brachte es von allen aktuellen Top-Ten-Spielern 2018 auf die meisten Siege, nämlich auf 58 bei gezählten 77 Auftritten. Der am häufigsten angetretene Top-Ten-Spieler verzeichnete in seinem Toursieg-Jahr somit eine Quote von 75,3 Prozent gewonnener Matches. Der mit 49 Einsätzen am seltensten fightende Rafael Nadal kam bei nur vier Niederlagen auf den Höchstwert von 91,8 Prozent Siege.
Lust am Tennis ergreift Nachwuchs und Fans
Für 2019 überlegt Federer, weniger zu pausieren: damit er die wichtigen Matches ohne hinderlichen Muskelkater spielen kann. Nach insgesamt 310 Wochen auf Rang eins der ATP-Weltrangliste, beendete der 20-fache Grand-Slam-Sieger das Jahr auf Platz drei hinter dem körperlich angeschlagenen Spanier Nadal und dem Serben Novak Djokovic. Der 31-jährige „Djoker", ein Ex-Schützling von Becker, feierte nach langer Verletzungsauszeit und schwierigem Wiedereinstieg sein persönliches Traum-Comeback. Nach der Trennung von Kurzzeit-Berater Andre Agassi und der Rückkehr zu seinem alten Trainer Marian Vajda spielte sich der Serbe, beginnend mit der Rasensaison, sensationell auf Rang eins vor – unter anderem mit seinem Sieg in Wimbledon, den Roger so gern gehabt hätte.
Federers Jahresanfangs-Mixed-Partnerin Bencic, Ex-Nummer sieben der Welt, rutschte übrigens auf Platz 41, nachdem ihr Kerber im Achtelfinale des berühmten Rasen-Turniers die Bremse eingelegt hatte. Davon erholte sich die zuvor so starke Schweizerin nicht mehr. Die Wahl-Regensburgerin Julia Görges hingegen erlebte wie Angie ein Wimbledon-Hoch, musste sich erst im Halbfinale Serena Williams geschlagen gegeben, und zog nachfolgend erstmals in ihrer Karriere in die Top Ten ein.
Aus deutscher Sicht ging die Kurve übers Jahr unverdrossen nach oben. Die neue Lust am Tennis ergriff nicht nur Deutschlands Beste, sondern immer mehr auch den Nachwuchs und die Fans. Becker, dessen Ruhm begann, als er mit 17 Jahren überraschend Wimbledon gewann, der sich aber seit Längerem dafür ausspricht, die neuen „Diamanten zu polieren", freute sich entsprechend neidlos über den Sieg seines Lieblingsedelsteins, Sascha Zverev, beim Saisonabschluss und über das Strahlen des neuen Stars und ATP-Weltmeisters am Tennishimmel.
Becker via BBC: „Jahrelang haben wir gesagt, das Tennis braucht neue Gesichter und starke neue Spieler. Er hat bewiesen, dass er der Beste der neuen Generation ist." Dennoch war auch für den Wahl-Londoner der Sieg Zverevs in der englischen Hauptstadt, ausgerechnet über Boris’ Ex-Arbeitgeber Djokovic, eine „große Überraschung". Das „Oberhaupt" der deutschen Tennisherren: „Novak und Roger nacheinander in einem der größten Turniere der Welt zu bezwingen, beweist ihm und der ganzen Welt, dass er der nächste Superstar wird."
„Bravo, deutsches Tennis lebt"
Neben und nach Becker und Michael Stich gab es in Deutschland noch einige Top-Ten-Spieler, doch wirkten sie im Vergleich zu dem rothaarigen Showman alle etwas blass. Kein Wunder, dass Becker über den emotionsstarken Sascha, dessen Eltern einst aus Russland emigrierten, nach dessen charmanter, vom Gewinndruck hörbar befreiter Rede bei der Finals-Siegerehrung sagte: „Ein Deutscher mit Humor, der reden und über sich selbst lachen kann – ein Star ist angekommen." Auch der eifrig twitternde Kopf der deutschen Tennis-Damen, Barbara Rittner, ist zufrieden mit dem Tennisjahr: „Krass … jetzt haben wir in 2018 eine Wimbledon-Siegerin @AngeliqueKerber UND einen Masters-Sieger #bravoSaschaZverev. Bravo, deutsches Tennis lebt."
Für weiteren potenziellen Tennis-Star-Nachwuchs sorgt übrigens die Familie Zverev selbst. Saschas Bruder Mischa, der im Juni in Eastbourne mit 30 Jahren seinen ersten ATP-Turniersieg feierte, bekam im Oktober einen Sohn. Der Junior hat einen guten Draht zu seinem Onkel, dem Tour-Weltmeister Sascha. Vom Champagner bekam er aber trotzdem nichts ab.