Tobias Hartmann ist Wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Instituts für Demenzprävention der Universität des Saarlands in Homburg. Dort forscht er an Möglichkeiten, den Ausbruch einer Demenz zu verzögern. Im Interview spricht er über seine bisherigen Erfolge.
Herr Hartmann, ist es möglich, dass eine Demenz gar nicht ausbricht?
Ja. Das ist sogar bei sehr vielen Alzheimerpatienten der Fall. Für den Wissenschaftler, der natürlich einen viel tieferen Einblick in die Krankheit hat und sie Jahrzehnte vorher sehen kann, ist Alzheimer eine sich sehr langsam entwickelnde Krankheit. Aus Sicht des Patienten stellt sich das natürlich ganz anders dar. Er sieht nur die wesentlich kürzere Zeitspanne. Es ist im Prinzip eine chronische Erkrankung, die zu einer stetigen aber langsamen Verschlechterung führt. Da die Inkubationszeit sehr lang ist, führt das bei vielen Patienten dazu, dass sie, wenn sie noch zehn Jahre länger gelebt hätten, dement geworden wären. Aber sie sind schlicht und einfach früher gestorben. Das kann mit 60 gewesen sein, das kann aber auch mit 100 gewesen sein.
Sie versuchen, diesen Prozess zu verzögern. Wie genau sehen Ihre Untersuchungen aus?
Wir machen neurowissenschaftliche und neurobiologische Untersuchungen. Die Neurologie und Psychiatrie sind für die Patienten reserviert. Sie findet auf dem Stuhl mit dem Fragebogen statt. Was im Labor stattfindet – die Neurowissenschaft – beginnt, wie man sich das vorstellt: dass der Chemiker Substanzen zusammenkippt und beobachtet, was passiert. Er nimmt menschliche oder tierische Hirnzellen, die man nutzt, um nicht zu viele aufwendige Tierversuche machen zu müssen. Dann macht man am Ende Tierversuche, um zu sehen, ob das auch bei Lebewesen funktioniert. Bis dahin, dass man im Labor Hirnproben vom Menschen untersucht.
Laut Ihrer bisherigen Forschung besteht ein Zusammenhang zwischen Ernährung und Demenz.
Lassen Sie mich ein bisschen weiter vorn anfangen.
Nur zu!
Wir haben bei der Suche nach der Ursache der Alzheimer-Krankheit schon vor vielen Jahren entdeckt, dass es einen bestimmten Eiweißstoff gibt, ein Protein, das mit der Krankheit verbunden ist. Das war dann ein Riesenrätsel. Denn was ist die Aufgabe dieses Stoffes?
Vermutlich nicht, für Alzheimer zu sorgen.
Mit Sicherheit nicht. Gewöhnlich sagt man: Wenn ich die natürliche Funktion kenne, dann habe ich den ersten Hinweis, was in der Krankheit schiefgeht. Da haben wir herausgefunden: Die natürliche Aufgabe dieses Eiweißstoffes ist es, den Fettstoffwechsel im menschlichen Körper zu regulieren. Dann haben wir gesagt: Fettstoffwechsel, das ist gut, denn das lässt sich über Ernährung beeinflussen. Wir haben uns viele Sachen angeschaut und festgestellt: Auch andere Nährstoffe sind von Bedeutung, also nicht nur der Fettstoffwechsel. Wir haben dann unser Wissen, das Wissen von allen Kollegen, zusammengeschmissen und festgestellt, dass wir ein Dutzend Substanzen haben, natürliche Nährstoffe, die sich bei Alzheimer auswirken können. Die haben wir dann in einem Nährstoffcocktail in einer relativ normalen Konzentration zusammengemischt.
Was bedeutet normal?
Nicht so, wie Sie das im Bodybuilder-Shop sehen würden. Alles einfach im Rahmen der Empfehlungen für Ernährung. Das haben wir dann unseren Zellen gegeben. Das hat gut funktioniert. Dann haben wir es Mäusen gegeben. Das hat fantastisch funktioniert. Und dann haben wir es Menschen gegeben. Menschen, die am Ende der Inkubationsphase sind. Das ist, wie wenn Sie eine Grippe haben. Dann merken Sie: Jetzt werden die Knie schlottrig. Oder irgendwas in dieser Richtung. So ist das auch bei den Alzheimerpatienten.
Aber auf das Gedächtnis bezogen?
Genau. Am Ende der Inkubationsphase merken sie alle: Mein Gedächtnis lässt etwas nach. Diese Patienten haben wir uns angeschaut. Die waren noch nicht dement. Wir haben sie zwei Jahre lang behandelt. Mehrere Hundert von diesen Patienten. Dann haben wir festgestellt: Diejenigen, die den Nährstoffcocktail bekommen haben, schneiden in manchen Aufgaben besser ab als Patienten, die das Placebo bekommen haben. Auch wir Forscher wussten nicht, wer das Placebo bekommen hat. Am Ende der Befragung hat jemand Externes auf den Knopf gedrückt und gesagt: Jetzt sage ich euch, Abrakadabra, das hat funktioniert. Es hätte ja auch herauskommen können, dass es ihnen schlechter geht oder nichts gebracht hätte.
Was kam konkret heraus?
In diesem Fall ist es so, dass sich alle in der Krankheit etwas weiterentwickelt haben. Aber in manchen Punkten, nicht in allen, haben die Patienten, die den Nährstoffcocktail bekommen haben, besser abgeschnitten. Wir haben verschiedene Sachen ausprobiert. Sie haben sicher gehört, dass Mediziner immer Ankreuz-Tests machen müssen, statt richtige Fragen zu stellen.
Ja, Multiple-Choice-Aufgaben.
Man benutzt zum Testen von Hirnleistungen gern akademische Tests, die mit dem Leben nichts zu tun haben. Da haben wir keine großen Unterschiede gesehen. Wo wir aber Unterschiede gesehen haben, war im täglichen Leben. Das war sehr erstaunlich, weil wir nicht gedacht hätten, dass wir da leicht positive Ergebnisse bekommen.
Worum ging es bei den Aufgaben des täglichen Lebens?
Zum Beispiel um die Frage, wie der Patient mit Kleingeld zurechtkommt. Mit kleinen Geldsummen. Wenn Sie im Supermarkt in der Schlange stehen und fünf Positionen vor Ihnen an der Kasse eine ältere Frau der Kassiererin die Geldbörse rüberreicht, weil sie es selbst nicht mehr hinbekommt, dann ist der Grund häufig, dass sie das geistig nicht mehr hinbekommt. Es hat sich dann herausgestellt, dass sich die Lage bei denen, die einen Nahrungscocktail bekommen haben, nicht so verschlechtert hat. Das Einkaufen ist für ältere Menschen häufig der letzte verbliebene soziale Kontakt. Wenn die Leute sich in der Supermarktschlange aufregen, dass das so lang dauert, dann geht man nicht mehr so oft einkaufen.
Das Nahrungsergänzungsmittel ist mittlerweile im Handel erhältlich. Ist das auch für Sie selbst ein Erfolgserlebnis?
Natürlich! Wir haben nie gehofft, dass man Menschen damit so gut helfen kann. Das hängt mit der Art und Weise der Krankheit zusammen. Aber wenn man sie verzögern kann zu so einem frühen Zeitpunkt, an dem nur der Patient selber und vielleicht der Ehepartner erahnt, dass da ein Problem vorliegt, ist das toll. Das ist aus medizinischer Sicht fantastisch. Aus wissenschaftlicher Sicht zeigt uns das auch, dass diese Sekundärprävention am besten funktioniert, je früher man sie anwendet.