Die Neurologin Professor Judith Harrer-Haag erklärt, was bei einer Migräne passiert, welche Auslöser es gibt und wie sie behandelt werden kann.
Frau Harrer-Haag, was genau ist eigentlich Migräne?
Migräne gehört nach dem Spannungskopfschmerz zu den häufigsten Kopfschmerzen überhaupt und betrifft etwa jeden zehnten Menschen. In der westlichen Welt und in Südamerika tritt sie häufiger auf als anderswo. Sie ist auch genetisch bedingt, es gibt eine Reihe von Genen, die man da identifiziert hat.
Migräne ist eine Erkrankung, die von der Kopfschmerzstärke deutlich über dem liegt was den „normalen" Kopfschmerz ausmacht. Der Schmerz ist extrem stark und extrem einschränkend. Wenn sie häufig vorkommt, kann sie die Lebensqualität so stark einschränken wie bei einem Krebspatienten. Das wissen viele nicht, und auch viele Migränepatienten gestehen sich das nicht ein und versuchen, trotzdem arbeiten zu gehen und nicht „schon wieder" zu fehlen. Viele sagen dann: „Fehlt der schon wieder, hat der schon wieder Kopfschmerzen und macht krank?" Das Problem ist, dass man das nicht sehen kann. Wenn sich jemand bei einem Skiunfall das Bein bricht, kann er sechs Wochen zu Hause bleiben, da ist keiner böse.
Was passiert bei einer Migräne im Gehirn?
Es ist eine Kaskade, die im Gehirn abläuft, die gewisse Auslöser – auch genannt Trigger – hat, die man aber nicht alle kennt. Schon von sich aus ist das Gehirn von Migränekranken sensibler. Wenn so ein Trigger auftritt, kommt es wie beim Dominoeffekt zu einem Ablauf, bei dem verschiedene Nervenbotenstoffe ausgeschüttet werden, verschiedene Hirnbereiche aktiviert werden, es zu Veränderungen von Blutflüssen und Entzündungsreaktionen in der Nähe der Hirnhäute kommt. Und damit zu Schmerzen. Vorangehend können unter anderem Sehstörungen, Sprachstörungen, halbseitige Lähmungen und Gefühlsstörungen auftreten. Nach der Attacke tritt oft eine starke Müdigkeit auf, denn eine Migräneattacke strengt ein Gehirn sehr an. Oft nimmt der Patient am Tag davor schon Vorboten wahr. Er hat zum Beispiel weniger oder mehr Hunger, ist müde und schlapp.
Die Kopfschmerzen treten typischerweise auf einer Seite auf, oft ist auch das Auge stark mitbetroffen. Es ist ein starker pulsierender, pochender Schmerz, der einen richtig aus dem Leben reißt. Begleiterscheinungen sind dann auch häufig Lichtscheue, Lärmscheue, Geruchsempfindlichkeit, starke Übelkeit bis zum Erbrechen. Die Patienten müssen sich in der Regel zurückziehen und hinlegen.
Wie lange dauert so eine Attacke im Schnitt?
Zwischen vier und 72 Stunden.
Wie wird Migräne diagnostiziert?
Ganz wichtig ist das Gespräch. Man muss sich mit dem Patienten lange unterhalten und mit ganz vielen Fragen genau definierte Kriterien abfragen. Dann erfolgt noch eine neurologische Untersuchung, es werden ein EEG und eine Bildgebung vom Kopf (MRT, CT) gemacht.
Frauen haben es angeblich öfter?
Ja, aber erst ab dem Erwachsenenalter. Bei Kindern sind die Geschlechter gleich stark betroffen. Die Jungs haben Glück, bei ihnen verliert sich die Migräne in der Regel in der Pubertät, bei den Mädchen wird es zum Teil schlimmer. Bei erwachsenen Frauen spielen dann vermutlich auch Hormone eine Rolle.
Was sind die klassischen Auslöser?
Was Patienten sehr häufig sagen und was ich auch als Auslöser ansehe, sind Wetterwechsel und Alkohol, insbesondere Rotwein. Viele nennen Schokolade und Käse, und bei einigen Frauen spielt auch die Menstruation eine Rolle.
Was machen die Wechseljahre aus?
Da wird es in der Regel besser. In der Schwangerschaft wird es bei etwa einem Drittel schlimmer, bei etwa einem Drittel besser, und bei einem Drittel bleibt es gleich.
Welche medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Man muss zwischen der Akuttherapie und der Prophylaxe unterscheiden. Akuttherapie braucht jeder. Dass man eine Migräneattacke hat und nichts tun muss, ist eine absolute Seltenheit. Es sollte früh genug ein ausreichend starkes Medikament eingenommen werden, um die Attacke zu durchbrechen. Viele trauen sich nicht oder nehmen schwache Schmerzmittel wie Paracetamol, oder ein Medikament in einer schwachen Dosierung ein und dann geht die Attacke immer weiter. Je früher die Attacke behandelt wird, umso wirkungsvoller ist die Therapie. Wenn man erst nach einem Tag anfängt, hat man meist schon verloren. Schon beim Auftreten der Aura, also zum Bespiel der Sehstörungen, sollte man behandeln. Auf der anderen Seite sollen nicht zu viele Akutmedikamente eingenommen werden, Kopfschmerztabletten nicht an mehr als zehn Tagen im Monat. Wenn es mehr wird, sollte man lieber eine Prophylaxe anwenden.
Wie kann die aussehen?
Das ist ganz unterschiedlich. Zum Beispiel kann das Verändern des Lebensstils etwas bewirken. Wichtig sind regelmäßiger Schlaf, regelmäßiges Essen und regelmäßiger Sport. Ausdauersport und Entspannungsverfahren bringen viel.
Bei den medikamentösen Prophylaxen gibt es sehr milde Formen, zum Beispiel kann man mit der Einnahme von Magnesium und B-Vitaminen anfangen. Was ich immer empfehle ist, ein Kopfschmerztagebuch zu führen. Dann weiß man genau, wie viele Attacken man hat und was man schon einnimmt. Auch pflanzliche Mittel können helfen, zum Beispiel Pestwurz. Bei den Medikamenten helfen Betablocker oder Antidepressiva, die eine schmerzmodulierende Wirkung haben. Auch Antiepileptika, von denen manche für Migräne zugelassen sind, können helfen.
Die hierzulande gerade neu zugelassene neue Spritzentherapie mit einem Antikörper wirkt auch prophylaktisch und hat wenige Nebenwirkungen, das weiß man aus mehreren Studien. Die Wirkung tritt oft schon nach zwei Wochen ein. Allerdings ist das Medikament sehr teuer, eine Spritze kostet fast 700 Euro und die braucht man alle vier Wochen. Unter bestimmten Voraussetzungen zahlen die gesetzlichen Krankenkassen dies aber auch.
Kann Migräne irgendwelche körperlichen Folgen haben?
Migräne-Patienten sind gefährdeter für Schlaganfälle. Das Risiko ist aber minimal. Aber man sollte wenigstens einmal die Zusatzrisiken abklopfen, ob derjenige zum Beispiel raucht, die Antibabypille nimmt oder einen erhöhten Blutdruck hat. Wenn mehrere Risiken zusammenkommen, empfehle ich zusätzlich einen Ultraschall von den Hals- und Hirngefäßen. Dann hat man festgestellt, dass viele Migräne-Patienten kleine Veränderungen in der weißen Gehirn-Ssubstanz haben. Wie kleine Narben. Man weiß noch nicht genau, woher diese stammen. Sie scheinen aber nicht mit kognitiven, das heißt, geistigen Veränderungen einherzugehen und bleiben oft über viele Jahre stabil.
Gibt es Spätfolgen, wenn jemand sein Leben lang Migräne hat?
Eigentlich keine schweren. Dauerhaft nicht behandelte Schmerzen jeder Art können aber Depressionen verursachen. Das kann man schon als Spätfolge ansehen. Ein weiterer oft diskutierter Punkt ist, dass viele Migräne-Patienten ein Loch im Herzen in der Vorhofwand haben. Sehr oft hat man früher bei diesen Patienten das Loch verschlossen, um damit die Migräne zu heilen. Mittlerweile gibt es aber sehr aussagekräftige Studien, die zeigen, dass das nichts bringt.
Botox soll bei Migräne auch helfen.
Ja, Botulinumtoxin ist für die chronische Migräne zugelassen. Davon spricht man ab einer Häufigkeit von 15 Kopfschmerztagen im Monat. Botulinumtoxin wird alle drei Monate an einigen Einstichstellen im Bereich der Stirn, Schläfen und Nacken gespritzt und wirkt gut. Es vermindert die Anzahl an Migräne-Tagen im Monat. Die Wirkung hängt mit Nervenbotenstoffen zusammen, die auch am Hirnstamm, das heißt, im zentralen Nervensystem wirken. Botulinumtoxin blockiert solche Botenstoffe.
Kopfschmerzen können auch von Schmerztabletten herrühren. Was hat es damit auf sich?
Das ist eine eigene Art von Kopfschmerz. Dieser imitiert gemeinerweise genau den Kopfschmerz, den man selbst hat. Darum kann man ihn nicht von der normalen Migräne unterscheiden. Diese Kopfschmerzen können auftreten, wenn jemand zu häufig Kopfschmerztabletten nimmt, zum Beispiel bei einer Dosierung jeden zweiten Tag. Dann liegt eine Überdosierung vor. Die Einnahme muss zurückgefahren werden, am besten erst mal auf null, zeitgleich muss man aber dann mit einer wirksamen Prophylaxe beginnen. Manchmal geht das sogar nur im Krankenhaus. Dann wird es aber in der Regel besser.
Wie sieht es mit der Behandlung mit Cannabis aus?
Normalerweise wenden Ärzte das nicht regelhaft für Kopfschmerzen an, es ist auch dafür nicht zugelassen.
Es gibt im Übrigen keine klare Indikation dafür. Es mag Patienten geben, die davon profitieren können. Aber es hat auch Nebenwirkungen und fällt unter das Betäubungsmittelgesetz. Es ist sicher nie das Erste, was man versuchen soll. Dafür gibt es genug andere Optionen.
Wichtig ist einfach, dass ein Migräne-Patient zum Facharzt geht. Mir ist wichtig, dass die Krankheit ernst genommen wird. Schmerzpatienten werden oft in die Psychoecke gestellt. Das wird deren Diagnose und deren Leid aber nicht gerecht.