Torsten Hartung tötete einen Menschen und saß insgesamt 22 Jahre hinter Gittern. Nach der Strafverbüßung begann er ein neues Leben und erhielt eine zweite Chance.
Harte, kantige Züge zeichnen sein Gesicht, während Torsten Hartung noch einmal die Mauern der Berliner Justizvollzugsanstalt (JVA) in Moabit entlangschreitet – diesmal von außen. Der Staatsanwalt plädierte auf lebenslänglich. Im schweren Fall sind das 28 Jahre. Doch der Richterspruch fiel milde aus: 15 Jahre Haft. In der JVA Moabit war er für vier Jahre, neun Monate und zwei Tage in Isolationshaft. Den Rest seiner Strafe verbüßte er in der JVA in Tegel. Die eisernen Gitter vor den Fenstern wirken noch heute beklemmend auf ihn. „Die Einzelhaft und dass ich keinen Kontakt zu anderen Menschen hatte, setzte mich ganz schön unter Druck. Es waren neue Gerüche, Geräusche, Tagesabläufe. All das, was ich draußen an Macht und Einfluss hatte, war plötzlich weg. Ich war unter Verschluss im wahrsten Sinne des Wortes. Ich fühlte mich allein, eben ausgeschlossen. Außer wach zu werden und schlafen zu gehen, hatte ich keine Willensentscheidung mehr über mich und was um mich herum geschah. Das grenzte schon an Wahnsinn, dass ich Angst hatte, verrückt zu werden", erinnert sich Torsten Hartung.
Autos knacken in 20 Sekunden
Die ersten Jahre in Haft hatte er noch kein Gespür für Unrecht und Schuld. „In dieser Zeit war noch viel kriminelle Energie in mir. Ich schmiedete bereits Pläne für neue ‚krumme Dinger‘ nach der Strafentlassung." Der gelernte Dachdecker geriet schon früh auf die schiefe Bahn. Auf seinem Strafkonto standen bereits mehrere Delikte: Nötigung, Hehlerei, unerlaubter Waffenbesitz, Banküberfälle, Drogengeschäfte, die ganze Bandbreite von Schwerstkriminalität. Mehrfach wurde er weggesperrt. Hartung wurde der Kopf eines des größten organisierten Autoschieber-Ringes Europas. Die Bande verschob Luxuskarossen nach Russland und in die arabischen Länder. Torsten Hartung baute die Transportlogistik auf, führte das Krisenmanagement. Die Organisation der Autoschieber wuchs auf 54 Leute an. „Die Russen beauftragten uns, Luxuskarossen zu besorgen. Ich nahm ein paar Tage später Kontakt mit Studenten der Feinmechanik an der Berliner Technischen Universität auf. Das waren Profis, die ohne Schlüssel innerhalb von 20 Sekunden die Luxus-Limousinen knackten und startbereit machten, egal welches Alarmsystem installiert war."
Torsten Hartung sorgte für professionelle Fachkräfte, falsche Papiere, falsche Autoschilder. Die Mitglieder der Autoschieber-Bande gaben sich als Abgeordnete des Berliner Senats aus, passierten die Grenzen, übernachteten in Luxushotels und verkauften weit über 100 Fahrzeuge in knapp eineinhalb Jahren. „Der Schaden wurde von der Staatsanwaltschaft laut Anklageschrift auf zwischen zehn und 12,8 Millionen Euro beziffert. Das betraf nur die Fahrzeuge, die sie uns nachweisen konnten. Wir hatten damals Verdienste in der Woche von 150.000 Mark, denn die Russen hatten uns diese Fahrzeuge förmlich aus der Hand gerissen. Sie stellten uns eine Villa zur Verfügung, Prostituierte, Kokain bis zum Abwinken."
Für den Bandenchef waren diese „Erfolge" wie ein Rausch, der doch jedes Mal ein großes Loch in der Seele hinterließ. „Geldlich haben wir wie die Könige gelebt, innerlich waren wir Bettler." Denn das Geld war ihm eigentlich nicht wichtig, meint Torsten Hartung heute. „Ich habe es verachtet, weil mein Vater immer dann, wenn ich gefragt habe, ob er Zeit für mich hat, antwortete: ‚Ich muss Geld verdienen.‘ Und dieser Satz hat mich geprägt. Geld habe ich rausgeschmissen. Es war eher das Gefühl von Macht, von dazuzugehören, das meinen kriminellen Motor antrieb." Dem Sog, den seine kriminelle Energie entwickelte, konnte er nicht mehr entkommen.
Das herbstlich warme Sonnenlicht fällt sanft auf das Kriminalgericht in Moabit. In 21 Gerichtssälen finden täglich rund 300 Prozesse statt. Dabei geht es häufig um schwere Gewaltverbrechen. Hinter den Motiven von Straftaten steht oft Macht, weiß die Richterin Corinna Sassenroth. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es Tätern, insbesondere auch bei Raubtaten, gar nicht vordergründig auf die Beute ankommt, sondern dem Gegenüber zu demonstrieren, dass sie Macht ausüben: ‚Ich bin stärker als du, ich habe Macht über dich‘." Das beginne schon sehr früh in der Kindheit. „Wenn ich mich mit anderen Kindern verbünde und merke, dass ich andere verletzen und tyrannisieren kann. Das ist ein starkes Gefühl von Gruppenzugehörigkeit." Torsten Hartung fehlte das Gefühl seines eigenen Wertes. „Ich hatte keinerlei Selbstbewusstsein und habe alles, was man über mich dachte oder von mir einforderte, was nicht meinen Vorstellungen entsprach, als Angriff gewertet. Ich wusste nicht anders damit umzugehen als mit Gewalt. Und da wird Macht zur größten Antriebskraft in einer kriminellen Organisation, ohne Rücksicht auf Verluste. Ich fühlte kein Unrecht, war emotional tot. Ich hatte keine Empathie für mich und auch nicht für andere. Entsprechend verhielt ich mich: lieblos und rücksichtslos." Der Wunsch nach Zuwendung kehrte sich um in eine Gier nach Macht und bestimmte sein Leben. Das, was ihm widerfuhr, wiederholte sich. Torsten Hartung tat es seinem Vater gleich und „verdiente" Geld, viel Geld – bis er eines Tages von Interpol verhaftet wurde.
Prozess dauerte fast sechs Jahre
Der Prozess gegen ihn und seine Mittäter dauerte wegen der Vielzahl der Beteiligten und Einzeldelikte fast sechs Jahre und sorgte für großes öffentliches Aufsehen. Durch die Ermittlungen kam auch heraus, wie skrupellos die Bande vorging. Finaler Höhepunkt der kriminellen Karriere von Torsten Hartung: die vorsätzliche Tötung eines vermeintlichen Konkurrenten, der seine Führungsposition infrage gestellt hatte. In einem Waldstück bei Riga erschoss Torsten Hartung den Mann. Kaltblütig und ohne moralische Bedenken. „Das war wirklich das Böse in einer unglaublichen Dynamik", sagt Hartung heute. „Das Schwerste war, die Schuld zu fühlen. Dieses spätere emotionale Nachempfinden, nicht das verstandesmäßige Erfassen, sondern dieses innere Spüren von Schuld, das war enorm. Ich habe mich hilflos gefühlt. Mir selbst gegenüber, meiner Lebenssituation gegenüber, meinem Verhalten gegenüber. Und ich wusste nicht, wohin damit."
Der einstige Profi-Dieb zeigt auf ein Zellenfenster der Haftanstalt und erinnert sich: „Ich hatte ein weißes Bettlaken davor gespannt, weil es die Sonnenseite war und mich blendete. Plötzlich kam ein Windhauch hinein, das Laken blähte sich auf wie ein kleines Segel und legte sich zurück ans Fensterkreuz. Es sah aus wie ein Kreuz." Obwohl er bis dahin mit Gott nichts am Hut hatte, begann er, zum ersten Mal bewusst ein Gebet zu sprechen und seine Geschichte zu erzählen. „Ich weinte in einer Tiefe, wie es mir bis dahin völlig unbekannt war. Heute kann ich sagen, dass ich über mein gelebtes Leben geweint habe."
Bei der Beurteilung von Tätern gehe es oft um solche persönlichen Entwicklungen und Hintergründe, meint Corinna Sassenroth. „Was schon sehr auffällig ist: dass ich bei vielen Tätern das Gefühl habe, dass sie ein großes Defizit an Liebe und Zuneigung haben. Es ist auch nicht selten, dass ich jemanden vor mir sitzen habe und ich denjenigen frage, was war denn bisher in deinem Leben? Was ist da passiert? Viele Jugendliche haben zum ersten Mal das Gefühl: ‚Jemand interessiert sich für mich‘."
In Frohburg, einem kleinen Städtchen im Landkreis Leipzig lebt Torsten Hartung. Zwölf Jahre sind vergangen, seit er aus dem Gefängnis entlassen wurde. In dem Eckhaus, direkt an der Straße gelegen, mit einem großzügig gestalteten Hof und etwas Grün hat er ein Projekt innerhalb des Vereins „Maria hilf-t" im Bistum Dresden-Meißen initiiert. Das Projekt unterstützt die Resozialisierung von jugendlichen Straftätern. Das Wohnhaus wurde angekauft, saniert und versteht sich als Nachsorgehaus für straffällig gewordene Jugendliche.
Freundlich öffnet Torsten Hartung die Tür und führt durch die Räume. Küche, Wohnraum, Zimmer für die Jugendlichen, Gebetsraum und sein Arbeitszimmer. „Es ist genau so groß wie meine Gefängniszelle – mit dem Unterschied: Jetzt bin ich frei und hier mit den Dingen umgeben, die mir einfach lieb und teuer sind." Dazu gehören seine Tagebücher. Ihnen hat er alles anvertraut. Torsten Hartung blättert darin, zeigt auf die Texte, Verse, Zeichnungen. Sie wurden damals so etwas wie Wegbegleiter, mit denen er sich selbst Fragen stellte. Die Antworten fand er in seiner eigenen Geschichte. „Das war nicht angenehm, was ich da wahrgenommen hatte: die immer größer werdende Last meiner Schuld, die Einsamkeit, die Ängste. Am meisten Angst hatte ich vor mir selbst, weil ich verstanden hatte, wozu ich fähig war. Das war noch einmal wie ein inneres Gefängnis." So wie viele Straftäter suchte auch er eine Erklärung für seine Tat in der Kindheit, in Dingen, die getan, unterlassen, verschwiegen oder gesagt wurden. „Es hieß oft: Du kannst das nicht. Du bist ein Taugenichts. Das ist mir ständig um die Ohren geflogen. Ich fühlte nie die Botschaft ‚Willkommen auf dieser Welt‘. Mit sieben Jahren wollte sich meine Mutter vor mir erhängen, mit zehn Jahren drohte mein Vater, mich totzuschlagen. Ich glaubte, ihnen egal zu sein, und wurde immer aggressiver, gewalttätig, beziehungslos, verantwortungslos. Heute denke ich, es war kein Nichtwollen, sondern ein Nichtkönnen seitens meiner Eltern, das wiederum mit ihrer eigenen Geschichte zu tun hat."
Durch die Gefängnisstrafe büßte Torsten Hartung für seine Schuld. Doch eine Vergebung konnte die Haft nicht bewirken. „Es bleibt ein Schatten auf meiner Seele." Zweimal versuchte er, mit der Familie des Opfers Kontakt aufzunehmen, um sich zu entschuldigen, um Verzeihung zu bitten. Die Familie verweigerte eine Begegnung.
Torsten Hartung baute sich ein neues Leben auf und bekam eine zweite Chance. „Das ist wie ein Blinder, der auf einmal sehen kann. Ich war ja nicht nur blind, ich war taub, ich war stumm. Ich konnte gar nicht am Leben teilnehmen." Wenn er jetzt mit jungen Straftätern herauszufinden versucht, wer sie sind, wo sie Täter und wo Opfer waren, dass sie ihr Gegenüber nicht mehr als Projektionsfläche für ihre seelischen Verletzungen missbrauchen, dann spürt er Sinn in seinem Tun. Seit zwei Jahren berät er auch junge Menschen, die Schwierigkeiten haben, in die Erwachsenenwelt zu finden. Die wie er kein gutes Zuhause oder kein gutes Leben hatten. Durch diese Arbeit erfährt er das Gefühl, einen Teil seiner Schuld wieder gutmachen zu können. „Ich habe der Gesellschaft viel Schaden zugefügt, sodass ich mich jetzt um einen Ausgleich bemühe. Mal gelingt es gut, mal weniger. Es ist ein Einüben, und es zaubert nicht Angst herbei, sondern ein Lächeln.