Theodor Heuss wurde vor 70 Jahren der erste Bundespräsident der BRD – und war bei den Deutschen beliebt. Trotz seiner Intellektualität war er nicht unfehlbar. Der schwäbische Professor stimmte im Reichstag Hitlers Ermächtigungsgesetz zu. Ein schwerer Fehler, wie er später eingestand.
Er war eine erstaunliche Erscheinung. Ein in die Politik geratener Intellektueller, hochgebildet, der sich in seinen liebevoll vorbereiteten Reden als „politischer Pädagoge" (Alfred Grosser) und „Dolmetscher der Demokratie" (Karl Dietrich Bracher) verstand. Statt auf Pathos und Demagogie setzte der erste Bundespräsident auf Bescheidenheit und Nüchternheit. Das kam an und trug ihm große Beliebtheit ein. Zuletzt war Theodor Heuss (1884 – 1963) neben Bundeskanzler Konrad Adenauer der angesehenste Repräsentant des neuen westdeutschen Staates. Die Leistungen des Kanzlers, der mehr praktischer Bürger, und des Präsidenten, der mehr Bildungsbürger war, ergänzten sich glücklich und trugen viel zur Selbstfindung und zum Vertrauensgewinn des neuen demokratischen Deutschlands in der Welt bei.
Theodor Heuss, Sohn eines Regierungsbaumeisters, wurde am 31. Januar 1884 in dem Weinstädtchen Brackenheim am Neckar geboren. Seine Jugend- und Gymnasialzeit verbrachte er in Heilbronn, wo er 1902 das Abitur ablegte. Das Studium der Kunst- und Staatswissenschaften in Berlin und München krönte Heuss 1905 mit einer agrarhistorischen Dissertation über „Weinbau und Weingärtnerstand in Heilbronn". Der 21-Jährige war der jüngste Doktor der staatswissenschaftlichen Fakultät in München. Er leitete dann eine Zeit lang die Wochenschrift „Die Hilfe" (1905 bis 1912) und die Heilbronner „Neckarzeitung" (1912 bis 1918), lehrte seit 1920 als Dozent an der Hochschule für Politik in Berlin und gehörte von 1924 bis 1933 fast ununterbrochen dem Reichstag an.
Seine politische Heimat fand Heuss 1918 in der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Dort wirkten neben dem nationalsozialen Pfarrer Friedrich Naumann so profilierte Persönlichkeiten wie der Soziologe Max Weber, der Industrielle und spätere Reichsaußenminister Walther Rathenau und der Staatsrechtler und Mitschöpfer der Weimarer Verfassung Hugo Preuß. Im Kaiserreich und der Weimarer Republik (1918 bis 1933) äußerte sich Heuss als Publizist, liberaler Abgeordneter und politischer Erzieher in zahlreichen Reden und Schriften zu den brennenden Fragen der Zeit.
Mit 21 Jahren jüngster Doktor der Fakultät
Obwohl er sich 1932 in einer Schrift („Hitlers Weg") scharf mit der Hitlerbewegung auseinandergesetzt hatte, wurde auch Heuss – wie die meisten seiner Zeitgenossen – das Opfer einer Fehleinschätzung der NSDAP. Noch am 29. Dezember 1932 war er sich in einem Leitartikel der „Neckarzeitung" sicher, dass Hitler „zum Beginn von 1933 von der Siegessäule weiter entfernt ist als vor einem Jahr". Eine Fehlprognose. Am 30. Januar 1933 wurde der NSDAP-Anführer Reichskanzler.
Dass auch er mit seiner Fraktion – wie die Zentrumspartei – dem Druck und Täuschungsmanöver Hitlers erlag und am 23. März 1933 dem Ermächtigungsgesetz, wenn auch widerstrebend, zustimmte, hat Heuss in einer Aufzeichnung aus seinem Nachlass als einen Vorgang bezeichnet, für den der Begriff „politische Dummheit" noch viel zu schwach sei. Seine „wohlbürgerliche Erziehung", sagte Heuss, habe ihn nicht befähigt, mit der Fantasie so viel sinnlose und dumme Brutalität geschichtlich für möglich zu halten, wie Hitler sie dann praktizieren sollte.
Im Mai 1933 verlor Heuss seinen Berliner Lehrauftrag, im Juli 1933 sein Reichstagsmandat. Eine Zeit lang war er dann noch Mitarbeiter der „Frankfurter Zeitung", der letzten Bastion einer vorsichtigen Opposition in der Presse. Dann erhielt Heuss Schreibverbot und musste sich mühsam durchlavieren. Für die Ernährung der Familie sorgte jetzt seine sozialpolitisch engagierte und schriftstellerisch tätige Ehefrau Elly Heuss-Knapp als Werbetexterin für verschiedene Konsumprodukte. Darunter waren noch heute bekannte Markennamen wie Nivea, Kaffee Hag und Persil. Mit der Erfindung des akustischen Warenzeichens für Unternehmen (Jingle) revolutionierte sie die Radiowerbung.
Der 8. Mai 1945, als Deutschland kapitulierte, verkörperte für Heuss „die tragischste und fragwürdigste Paradoxie", weil die Deutschen „erlöst und vernichtet in einem" gewesen seien. Nun begann die zweite große politische Karriere von Theodor Heuss, jetzt in der Rolle als Mitbegründer und Vorsitzender der FDP. Im Parlamentarischen Rat, den der CDU-Politiker Konrad Adenauer leitete, beteiligte sich Heuss 1948/49 maßgeblich an der Ausarbeitung des Grundgesetzes.
Heuss war es, der den Namen „Bundesrepublik Deutschland" vorschlug und dessen elegante Formulierungsgabe sich in der Präambel des Grundgesetzes niederschlug. Er setzte sich für die Farben Schwarz-Rot-Gold der Revolution von 1848 ein und nannte die allgemeine Wehrpflicht „das legitime Kind der Demokratie". Bei der Debatte über die Verankerung der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen im „Grundgesetz" warnte er weitblickend, es könne zu einem „Massenverschleiß des Gewissens" kommen.
Zweite politische Karriere als FDP-Chef
Nach dem Sieg der Unionsparteien bei der ersten Bundestagswahl am 14. August 1949 wurden unionsintern in kleinem Kreis in Adenauers Rhöndorfer Heim die Weichen für die Zukunft gestellt. Kaffee und Kuchen und ein üppiges Büfett mit erlesenen Weinen sorgten für ein angenehmes Ambiente. Kanzler wolle er selbst werden, erklärte der alte Herr seinen überraschten Gästen, denn dies sei das wichtigste Amt im künftigen deutschen Staat. Abschieben auf das Amt des Bundespräsidenten, wie es manche vorhatten, ließ er sich nicht.
Den Bundespräsidenten solle die zweitstärkste Fraktion der kommenden Regierungskoalition stellen, also die FDP. Das jedenfalls meinte Adenauer zu den Unionsgranden und fuhr fort: „Ich schlage Professor Heuss vor." Ob dieser schon von seinem Glück wisse, fragte jemand in das verblüffte Schweigen hinein. Adenauer verneinte: „Bis jetzt noch nicht." Eine bayerische Stimme wandte ein, Heuss sei „nicht gerade kirchenfreundlich eingestellt". Schlagfertige Replik des „Alten": „Aber er hat eine fromme Frau. Das genügt." Adenauers Kalkül ging auf. Am 12. September 1949 wählte die Bundesversammlung Theodor Heuss zum ersten Bundespräsidenten.
Der schwäbische Professor mit der ewigen Zigarre wurde in überraschend kurzer Zeit zum anerkannten Repräsentanten des neuen Staates. Ende 1953 sprachen sich 63 Prozent Bundesbürger für eine Wiederwahl von Heuss aus. Zu seinem 70. Geburtstag am 31. Januar 1954 trafen über 14.000 Glückwunschschreiben ein. Mitte 1954 wurde Heuss in seinem Amt bestätigt. Diesmal hatte er keinen Gegenkandidaten. Seine allseitige Popularität wuchs weiter. Sein beruhigender Habitus, seine innere Souveränität und das Fluidum der Harmonie, das er verbreitete, gehörten aus der Sicht seines Biografen Hermann Rudolph zum emotionalen Inventar der Erfolgsjahre zwischen Fußballweltmeisterschaft 1954 und Berliner Mauerbau 1961.
Die Beliebtheit des Staatsoberhauptes verdichtete sich damals in einer Kurzformel, in der die Verehrung und Zuneigung der Bundesbürger zum Ausdruck kam: Sie nannten ihn „Papa Heuss". Bei aller Intellektualität verstand sich das Staatsoberhaupt auf Volksnähe. Anekdoten und Bonmots machten die Runde. Etwa jenes, mit dem sich der liebenswürdige Schwabe nach einem Kasernenbesuch von jungen Bundeswehrsoldaten verabschiedete: „Na, nun siegt mal schön!" Dabei war Heuss durchaus ein Mann mit Ecken und Kanten. Das bekam auch Bundeskanzler Adenauer zu spüren, wegen dessen undurchsichtigem Taktieren um das Präsidentenamt Heuss 1959 ernsthaft verstimmt war.
Im Ausland galt der erste Bundespräsident als würdiger und taktvoller Botschafter des demokratischen Deutschlands. Zusammen mit Bundeskanzler Adenauer half er, dem jungen Staat jenes Vertrauen wiederzugewinnen, das Hitler so schmählich verspielt hatte. Im eigenen Land warb Heuss unablässig für Freiheit, Demokratie und gesamtdeutsches Bewusstsein. Dabei prägte der am 12. Dezember 1963 fast 80-jährig gestorbene Staatsmann manch eindringliches Wort von bleibender Bedeutung. So sprach er von der „Kollektivscham", in die Hitler alle Menschen deutschen Namens gezwungen habe: „Wir dürfen einfach nicht vergessen …, weil wir es uns nicht bequem machen dürfen."