Mit „Deutschland hat Rücken" landeten Dr. med. Petra Bracht und ihr Mann Roland Liebscher-Bracht einen Bestseller. Im Interview spricht der Schmerzspezialist über häufige Rückenprobleme, Irrtümer bei Rückenschmerzen, Bandscheibenvorfälle, den Nutzen von Akupunktur und gibt Tipps für Übungen gegen Rückenschmerzen.
Herr Liebscher-Bracht, wieso hat Deutschland Rücken?
Deutschland hat Rücken, aber andere westliche Länder ebenso. Wir haben diesen Titel gewählt, damit die Menschen in den deutschsprachigen Ländern sich angesprochen fühlen. Darüber hinaus ist es aber so, dass Rückenschmerzen eigentlich ein weltweites Problem darstellen. Die Ursache, die wir gefunden haben, ist völlig einleuchtend: Überall wird zu viel gesessen, ohne dies auszugleichen. Dadurch „verkürzen" die Muskeln und Faszien an der Vorderseite des Körpers. Als Folge müssen die Rückenmuskeln viel mehr arbeiten. Sie werden überlastet und beginnen vor Überforderung zu brennen. Gleichzeitig geraten die Bandscheiben so bedrohlich unter Druck, dass das Gehirn Alarmschmerzen in den Rücken projiziert. Und als dritte Folge entstehen aufgrund der zu hohen Kräfte, die auf die Wirbelsäule einwirken, Schäden wie Bandscheibenvorwölbungen oder -vorfälle, Spinalkanalstenosen, Facettengelenksentzündungen und Gleitwirbel.
Sitzen ist also das Hauptproblem?
Es ist wichtig zu verstehen, dass nicht das Sitzen das Problem ist, sondern die Tatsache, dass es durch entsprechende Dehnübungen nicht ausgeglichen wird. Man kann 15 Stunden täglich sitzen, es muss nur ausgeglichen werden.
Welche Rückenprobleme sind am häufigsten?
Exakt die eben beschriebenen an der Lendenwirbelsäule. Aber es geht in beide Richtungen weiter. Nach unten entstehen Ischiasprobleme, weil die Verkürzungen durch das Sitzen auch in der Gesäßmuskulatur zu hohe Gegenspannungen erzeugen, wodurch der Nerv eingequetscht wird und Schmerzen bis zu den Füßen entstehen können. Nach oben kommt es zu „Rundrücken" und völlig überstreckten „Brettnacken". Alles wegen unserer sitzenden Körperhaltung, die nicht durch entsprechende Dehnungen ausgeglichen wird.
Sie vertreten die Ansicht, die herkömmliche Meinung sei falsch. Warum irrt sich die Schulmedizin? Und welche sind die großen Irrtümer bei Rückenschmerzen?
Weil sie zuallererst davon ausgeht, dass vor allem Schäden wie Bandscheibenvorfälle, Gleitwirbel und so weiter Ursache der Schmerzen sind. Interessanterweise beweist die Realität, dass diese Annahme meist falsch ist, denn die Schulmedizin selbst sagt, dass 90 Prozent der Rückenschmerzen sogenannte „unspezifische" sind, das heißt, man findet keine Schäden, also keine körperliche Ursache. Der größte Irrtum entsteht dadurch, dass die wirkliche Ursache – die zu hohen Spannungen der Muskeln und Faszien – weder im Röntgen noch im MRT oder CT zu sehen sind. Deswegen werden sie übersehen.
Welche Fehlbelastungen gibt es?
Eigentlich nur diejenigen, die durch unseren nicht ausgeglichenen einseitigen Bewegungsalltag entstehen. Denn Übergewicht, schweres Heben oder andere belastende Einflüsse müssten überhaupt nicht zu Rückenschmerzen führen, wenn die Muskeln und Faszien in gutem, flexiblem Zustand wären.
Sie halten Operationen für nicht hilfreich. Würden Sie etwa auch bei starker Skoliose von einer Operation abraten?
Die meisten Operationen werden aufgrund von Schmerzen durchgeführt. Da wir wissen, dass die Schmerzen so gut wie nie wegen Schäden an der Wirbelsäule entstehen, sondern wegen der zu hohen Spannungen der Muskeln und Faszien rund um die Wirbelsäule, beseitigen sie nicht die wirkliche Ursache der Schmerzen. Deswegen kehren sie oft einige Monate nach der OP zurück, wenn der entspannende Effekt der Narkose abgeklungen ist.
Welchen Nutzen hat Physiotherapie?
Obwohl der Grundgedanke derselbe ist wie bei Liebscher & Bracht, nutzt sie leider meist die Möglichkeiten der Beeinflussung der Muskeln und Faszien nach meiner Erfahrung viel zu unterschwellig. Die vielen tausend Physios, die wir in unserer Therapie schon ausgebildet haben, realisieren sehr schnell, dass man Schmerzen mit unserer Osteopressur, den Übungen und der Faszien-Rollmassage viel wirksamer und schneller beseitigen kann und wenden dann immer mehr nur noch unsere Techniken an.
Kann Akupunktur bei Rückenschmerzen helfen?
Prinzipiell ja. Das hängt davon ab, ob im speziellen Fall eher die Muskeln oder die Faszien zu den überhöhten Spannungen beitragen. Sind es die Muskeln, kann Akupunktur helfen, deren Spannung zu senken, bei verfilzten Faszien eher nicht. Vor allem fehlen dann die Übungen, denn nur diese halten den Patienten dauerhaft schmerzfrei.
Wie entstehen Bandscheibenprobleme?
Die Verkürzungen an der Vorderseite des Körpers ziehen nach vorne, die Rückenmuskeln müssen gegenziehen, um den Körper aufrechtzuhalten. Dadurch werden die Bandscheiben immer mehr zusammengequetscht. Hebt man jetzt einen Wasserkasten aus dem Auto, kann diese eigentlich völlig ungefährliche Spannungserhöhung zum Reißen der Wandung einer Bandscheibe führen – aber nur, weil der Druck auf die Bandscheibe vorher schon viel zu hoch war.
Wie kann man Bandscheibenvorfälle ohne Operation behandeln?
Die Bandscheibenvorfälle selbst brauchen überhaupt nicht behandelt zu werden. Normalisiert man die zu hohen Spannungen mit unserer Osteopressur und den Übungen, sind die Schmerzen verschwunden – obwohl der Bandscheibenvorfall immer noch da ist. Viele Menschen haben Bandscheibenvorfälle, aber wissen es gar nicht, weil sie keine Schmerzen haben. Dies haben auch Studien immer wieder gezeigt.
Wird Ihrer Ansicht nach zu schnell an den Knochen operiert?
Ja, eindeutig. Da die meisten OPs aufgrund von Schmerzen durchgeführt werden, sollte man vorher unbedingt unsere Therapie versuchen. Neun von zehn Patienten lassen sich dann nicht mehr operieren, weil die Schmerzen weg sind.
Kann man auch Fußfehlstellungen, die starke Schmerzen verursachen, Meniskus-Probleme oder Fersensporn erfolgreich ohne Operationen behandeln?
Genauso wie die Rückenschmerzen: mit unserer Osteopressur und den Übungen, um die zu hohen Spannungen zu normalisieren. Dann sind die Schmerzen so gut wie immer weg, von wenigen Ausnahmen abgesehen.
Welche Schlafpositionen für einen gesunden Rücken gibt es?
Rückenlage oder Bauchlage. Nur bitte nicht in der Seitenlage mit angezogenen Knien schlafen, denn dann „sitzt" man auch noch im Schlaf und muss den Verkürzungen noch mehr entgegenarbeiten.
Sie haben eine Reihe von Übungen entwickelt. Wie kann man den Rücken schmerzfrei drücken und rollen?
Die beste Übung ist das Überstrecken nach hinten, denn das ist das Gegenteil vom Sitzen und gleicht dieses aus. Dies kann man im Stehen machen oder aufgestützt auf den Händen beziehungsweise den Ellenbogen, wobei man den Bauch und das Becken nach unten durchhängen lässt. Mit unserer Faszienrolle mit der Mulde in der Mitte kann man den ganzen Rücken vom Gesäß bis zum Nacken abrollen – aber nur in eine Richtung und ganz langsam. Das Drücken kann man am besten mit unserem Schmerzfrei-Drücker machen, indem man schräg von vorne-oben auf die Kante des Schambeins drückt. Das entspannt die Bauchmuskeln und der Rumpf wird nicht mehr so stark nach vorne gezogen – die Rückenschmerzen verschwinden. Nur bitte daran denken: Die Übungen müssen regelmäßig gemacht werden. Viele weitere passende Übungen finden Sie ja auf unserem kostenfreien Youtube-Kanal Liebscher & Bracht.