Anja Hradetzky bereiste als Cowgirl Kanada und lernte, Rinder artgerecht zu halten. In einem Buch beschreibt sie nun ihren steinigen Weg zur Bio-Bäuerin an der Oder.
as heimische Erzgebirge war ihr zu klein, die Welt der Eltern ebenso. Für Anja Hradetzky blieb offenbar nur die Flucht nach vorn. Nach Kanada, um genau zu sein. Nach dem Abitur reist sie um die Welt – um zu lernen, wie sie sagt. Als Cowgirl entdeckt sie in Kanada ihre Liebe zu Kühen und zu einem selbstbestimmten Leben im Einklang mit der Natur. Nach dem Abenteuer wagt die heute 32-Jährige den Schritt in die Selbstständigkeit. Ihre Bio-Farm mit artgerechter Tierhaltung gilt heute als Brandenburger Musterbetrieb. Hier lebt sie seit 2013 mit ihrem Mann, zwei Kindern, 40 Milchkühen und 15 Bullen in Stolzenhagen – nur einen Steinwurf von der Oder entfernt.
In ihrem gerade erschienenen Buch „Wie ich als Cowgirl die Welt bereiste und ohne Land und Geld zur Bio-Bäuerin wurde" gibt die studierte Landwirtin für Ökolandbau und Vermarktung ihren außergewöhnlichen Lebensweg wieder. Der Buch-Einstieg ist sehr emotional – mit der Beschreibung des schwierigen Verhältnisses zu Mutter und Vater. Die haben laut der Erzählung einen Hang zu preiswerten Lebensmitteln. Eier kommen von Hühnern aus Käfigen, Milch von Kühen aus Massentierhaltung. Gekocht wird zu Hause wenig, gesprochen auch. „Mit der Beschreibung der Elternbeziehung wollte ich auch verdeutlichen, wie befreiend es sein kann, seine Grenzen zu überwinden", erklärt die „Grüne Gründerin", ein von den Brandenburger Grünen verliehener Titel.
In Sachen Lebensmittel macht sie heute alles anders als früher. „Am Sonntag gibt es direkt nach dem Melken mein Leibgericht: Pfannkuchen aus der eigenen Milch, den eigenen Eiern und dem eigenen Weizen." Damit es schneller geht, wird in drei Pfannen gleichzeitig gebacken. „Dazu gibt’s selbstgemachte Marmelade. Gekauft ist nur der Zucker", schmunzelt die Unternehmerin. Auf Stolzenhagen sei sie durch den Tipp einer Freundin gekommen. Den Nationalpark Unteres Odertal kannte sie aber schon. „Unsere Kühe geben hier im Monat um die 4.000 Liter Milch pro Tier." In Landwirtschaftsbetrieben mit Massentierhaltung seien heute 10.000 Liter Milch ganz normal. Hradetzkys Rinder grasen auf Naturschutz-Grünland. So pflegen sie gleichzeitig artenreiche Weiden. Die Milch hat höchste Qualität. Noch bis Oktober 2018 lieferte der Stolzenhagener Betrieb seine wertvolle Demeter-Heumilch an die „Gläserne Molkerei" im südbrandenburgischen Münchehofe. „Seitdem verarbeiten wir alles selbst in unserer eigenen Käserei. Hier gibt es die ganze Milchproduktpalette."
„Ich habe eine besondere Gabe"
Die von anderen Landwirten und Medien benutzte Bezeichnung „Kuhflüsterin" relativiert Anja Hradetzky: „Ich habe eine besondere Gabe mit Rindern zu kommunizieren und zeige Interessierten die kleinen Zeichen, die Herdentiere uns geben. Ich flüstere nicht wirklich, sondern agiere mit meinem Körper." Dazu dreht Anja Hradetzky beispielsweise ihre Schulter, geht dann einen Schritt zurück. Für Zuschauer wirkt es aus der Entfernung jedoch, als flüstere sie den Tieren etwas zu. Diese Wissensvermittlung an andere Landwirte sei nicht nur ein zweites berufliches Standbein, sondern eine Leidenschaft. „Tiere zu beobachten, macht mich glücklich. Ich versuche, mich, in Kühe hineinzuversetzen und ‚Kuhisch‘ zu denken", sagt Hradetzky lächelnd. Viel gelernt habe sie diesbezüglich bei einer Kanadierin, die allein mit Körpersprache eine Herde besser im Griff hatte, als zehn schreiende und wild gestikulierende Cowboys nur eine Farm weiter. „Das hat mich tief beeindruckt."
Schon früher habe sie sich bei Hunden und Pferden gefragt, was deren wahre Bedürfnisse sind. „Wie wollen sie leben? Was hat sich evolutionär entwickelt und warum? Bei der wesensgemäßen Tierhaltung versuche ich, allen Bedürfnissen nachzukommen. Das heißt zum Beispiel, dass die Kuh ihr Kalb säugt und die Hörner dranbleiben", so die Märkerin. Schwierig wurde es der Buchbeschreibung zufolge gleich in der zweiten Woche nach Betriebseröffnung in Stolzenhagen, als der Farm wegen einer vermuteten Krankheit der Rinder die Schließung drohte. „Der schönste Moment kam aber gleich hinterher: die Geburt der ersten drei Kälber."
Ins Untere Odertal hat sich Anja Hradetzky sofort verliebt. „Wir haben etwas kanadische Weite und es ist landschaftlich total bezaubernd. In der Region sind zudem viele alternativ lebende Menschen heimisch, die für Kunst und Kultur sorgen. Die besten Partys und Pizzas haben wir hier auch. Dazu die Ruhe und die Sterne. Ich vermisse nichts." Trotz der aufreibenden Arbeit im Landwirtschaftsbetrieb bleibe ausreichend Zeit für Ausflüge. Da sie von der Welt schon einiges gesehen hat, zieht es die gebürtige Meißnerin nie zu weit weg. Fast jedes zweite Wochenende nimmt sich die Familie frei. Sogar eine ganze Woche Bauernhof-Urlaub sei mal drin. Zu oft bekam Anja Hradetzky den eigenen Worten nach unterwegs mit, dass Hofbetreiber keine Freizeit hätten. Das wollte sie selbst anders machen. Große Träume habe sie nicht, schmunzelt die Wahlbrandenburgerin. „Wir haben ja unser Hobby zum Beruf gemacht. Es läuft gut, sodass keine besonderen Wünsche offen blieben."
Was sie in Kanada am meisten beeindruckte? „Das war mit Sicherheit die schier endlose Weite, das stundenlange Autofahren oder Reiten. Das tat meiner Seele total gut." Das Händeschütteln habe sie sich allerdings abgewöhnt. Die Kanadier seien zwar locker drauf, legen aber in dienstlichen Belangen lieber gleich los. „Ein langes Vorgeplänkel gibt es da nicht."