Schlagzeilen über Krankenpflege gibt es meist im Zusammenhang mit Pflegenotstand, Fachkräftemangel, Streik. Positive Entwicklungen gehen oft unter. Das Knappschaftsklinikum Saar zum Beispiel vermeldet gerade Zuwachs beim Pflegepersonal. Pflegedirektor Frank Kinsinger über den erfolgreichen Kampf um die heiß begehrten Fachkräfte.
Herr Kinsinger, als Pflegedirektor sind Sie dafür zuständig, dass auf allen Stationen zu jeder Zeit genug Pflegefachkräfte da sind. Beschreiben Sie diese Problematik bitte kurz.
Wir werden älter, also gibt es mehr Pflegebedürftige. Die Zahl der Erwerbstätigen nimmt ab, also gibt es weniger Fachkräfte.
Beides führt zum viel beschworenen Pflegenotstand. Fühlen Sie sich von der Politik im Stich gelassen?
Kann man so nicht sagen. Das Saarland hat richtig reagiert. Mit mehr Klinikbetten und mehr Ausbildungsplätzen. Bis sich das jedoch bemerkbar macht, wird es dauern. Die Ausbildung neuer Pflegefachkräfte dauert schließlich drei Jahre.
Wenn es weniger Erwerbstätige gibt, müssen Sie einen höheren Anteil für den Pflegeberuf begeistern. Wie soll das gehen?
Es ist wichtig, den Beruf attraktiver zu machen. Junge Menschen sind heute mehr freizeitorientiert. Der Pflegeberuf aber ist ein Rund-um-die-Uhr-Job. Da muss man auch mal die Freizeit unterordnen können. Es ist ein sozialer Beruf. Das muss man wollen. Die Konsequenz: Kliniken müssen attraktivere Arbeitgeber werden, müssen sich den Herausforderungen stellen.
Was heißt das konkret?
Ein wichtiger Punkt sind familienfreundliche Arbeitszeiten. Wobei man den Begriff Familie unterschiedlich definieren kann. Sagen wir lieber Privatleben. Man muss Beruf und Privatleben unter einen Hut kriegen. Wir haben diesen Bedarf früh erkannt und bieten unseren Bewerbern verschiedene Teilzeitmodelle und flexible Arbeitszeiten an. Letzten Dezember sind wir dafür sogar als familienfreundlicher Arbeitgeber zertifiziert worden. Da geht es übrigens nicht nur um Zeit für die Kinder. Wir unterstützen auch Mitarbeiter, die zu Hause Angehörige pflegen. Viele Bewerber fragen auch, ob wir Altersgrenzen haben. Offenbar gibt es andere Kliniken, die ab einem gewissen Alter nicht mehr einladen beziehungsweise einstellen.
Nun bieten Sie mir also eine Arbeitszeit passend zur Kita-Öffnungszeit meines Kindes. Davon wird der Stress auf der Schicht, über den viele Pfleger klagen, aber nicht weniger. Was tun Sie, um die Mitarbeiter zu entlasten?
Eine ganze Menge. Zuerst begegnen wir dem Fachkräftemangel offensiv. Wir haben dieses Jahr zusätzliche Pflegestellen geschaffen und fahren gerade eine Personalkampagne, wir nennen sie KK-Saar-Pflegeinitiative 2019. Das heißt, wir wollen übers Jahr noch mehr Fachkräfte einstellen, als unser bisheriger Personalschlüssel bräuchte. Wir wollen zum Beispiel bald auch auf allen Normalstationen doppelt besetzte Nachtschichten haben. Mit mehr Kollegen wird die Arbeit besser verteilt, die Mitarbeiter entlastet.
Vielen dieser neuen Kollegen bieten Sie individuelle Arbeitszeiten. Werden da die alteingesessenen Mitarbeiter, die brav ihren Schichtdienst schieben, nicht neidisch?
Auch sie profitieren davon. Denn durch familienfreundliche Arbeitszeiten können wir im Endeffekt mehr Fachkräfte einstellen, und die Arbeitsbelastung verteilt sich auf mehr Köpfe. So haben alle etwas davon.
Mehr Stellen ermöglicht Ihnen das neue Pflegepersonalstärkungsgesetz der Bundesregierung.
Genau. Damit bekommen wir zusätzliche Pflegekräfte am Patientenbett von den Krankenkassen refinanziert.
Wenn es die Kassen bezahlen, können andere Krankenhäuser es ja auch machen. Wie kann man sich da als Arbeitgeber abheben?
Mit attraktiveren Arbeitsbedingungen. Dafür reicht es nicht, einfach mehr Personal einzustellen. Wir bieten nicht nur die oben erwähnten flexiblen Arbeitszeiten, sondern auch einen guten Tarifvertrag, Fünftagewoche und langfristige Freizeitplanung. Und vor allem: Wir entlasten unsere Pflegefachkräfte zusätzlich von nichtpflegerischen Tätigkeiten. Dazu haben wir zum Beispiel die Digitalisierung vorangetrieben, um den Papierkram zu reduzieren. Hinzu kommen viele Mitarbeiter, die unseren Pflegefachkräften den Rücken freihalten: Wir haben einen Patiententransportdienst eingerichtet, es gibt Medizinische Fachangestellte, Versorgungsassistenten und eine IT-gestützte Materialbestellung. So bleibt jeder einzelnen Pflegefachkraft mehr Zeit am Patientenbett. Davon haben nicht nur unsere Patienten etwas, sondern ich denke, es ist für die Pfleger auch erfüllender, wenn Sie ihr Know-how anwenden können, wenn sie sich ganz der Patientenversorgung widmen können. Außerdem bieten wir unseren Mitarbeitern regelmäßige Fort- und Weiterbildungen während der Dienstzeit.
An vielen Kliniken in Ihrer Umgebung wurden Verbesserungen durch zähe Verhandlungen mit der Gewerkschaft errungen. An der Uniklinik wurde sogar gestreikt. Vor Ihrer Bürotür hängt ein Verdi-Transparent. Sind die Verbesserungen, die Sie eben genannt haben, auch auf Druck der Gewerkschaft entstanden?
Wir haben diese Verbesserungen alleine entwickelt. Der Betriebsrat gemeinsam mit der Geschäftsführung und der Pflegedirektion. Da sind auch Ideen aus dem betrieblichen Vorschlagswesen eingeflossen. Aber ich will die Rolle der Gewerkschaft nicht kleinreden. Ich selbst bin langjähriges Mitglied, und in unserem Betriebsrat ist die Verdi auch gut vertreten. Nein, was Verdi an den anderen Krankenhäusern gemacht hat, war für den Pflegeberuf maßgebend. Aber dass man gleich mit Streik drohen muss, fand ich übertrieben. Da werden Stationen zugemacht, wovon andere Kliniken profitieren. Es gibt ja verschiedene Klinikträger, zum Beispiel kirchliche, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind, und ein anderes Streikrecht als die öffentlich-rechtlichen haben. Ich finde: Wenn schon, dann müssen alle streiken. Natürlich nicht gleichzeitig, sondern nacheinander, wegen der Patientenversorgung.
Nun haben Sie sich also vieles einfallen lassen, um sich als Arbeitgeber attraktiver zu machen. Die entscheidende Frage: Was bringt es? Schließlich gilt der Arbeitsmarkt für Pflegekräfte als leergefegt.
Es bringt viel, denn es spricht sich rum. Wir bekommen viele Bewerber, hauptsächlich durch Mundpropaganda. Unter den Neueinstellungen sind Wechsler, auch aus Arztpraxen und aus Altenpflegeeinrichtungen. Und viele Eltern, die ihre Elternzeit verkürzen wollen.
Sind das diejenigen, die nach flexiblen Arbeitszeiten fragen?
Ja. Und je mehr Leute wir kriegen, desto einfacher können wir diese Wünsche erfüllen.
Was mich auch sehr freut: Es kommen erstaunlich viele Wiedereinsteiger!
Wie kriegen Sie diese dazu, in den alten Beruf zurückzukehren?
Wichtig ist die Einarbeitung. Zum Beispiel im Bereich der elektronischen Patientenakte gab es in den letzten Jahren viele Fortschritte. Da müssen wir diejenigen, die eine Zeit lang ausgesetzt haben, auf den neuesten Stand bringen. Dazu versuchen wir, jedem einen Paten zur Seite zu stellen. Alle Neuen bekommen Einarbeitungsmanuale an die Hand. Wir schulen außerhalb der Stationen. Vor allem in den Bereichen digitale Patientenakte und neue Methoden der Behandlungspflege, darunter Wundmanagement, Lagerungstechniken, Ernährung. Früher lagen Sie zum Beispiel nach einer Bauch-OP ewig im Bett, heute werden Sie von uns schnell mobilisiert. Doch in so eine gründliche Einarbeitung muss man Zeit investieren. Gerade, wenn ich die Leute dazu aus der Patientenversorgung herausnehme, so wie wir das tun.
Durch Personalmangel kommt es an Kliniken oft zu Überstunden oder anderen Belastungen. Wird das durch mehr Planstellen besser?
Man muss schon etwas mehr tun, als nur viele Leute einzustellen. Wir haben zum Beispiel einen Springerpool eingeführt, um kurzfristige Personalausfälle etwa durch Erkrankungen zu kompensieren, ohne das Mitarbeiter aus dem Frei geholt werden müssen. Diese Springerpool-Mitarbeiter werden on top eingesetzt, das heißt, wenn niemand ausfällt, dienen sie als Zusatzkräfte. Diesen Pool wollen wir mit mehr Personal aufstocken.
Und wenn doch mal jemand aus dem Frei geholt werden muss?
Wird er dafür belohnt. Es gibt Tankgutscheine und Zuschläge. Im Übrigen tun wir etwas gegen körperliche oder psychische Überlastung. Mediatoren unterstützen Mitarbeiter in besonders belastenden Situationen. Wir schulen die Kollegen im Umgang mit Sterbenden. Es gibt eine extra Arbeitsgruppe für das Belastungs- und Konsequenzen-Management. Wir haben ein eigenes BGM eingeführt, also Betriebliches Gesundheitsmanagement für die Mitarbeiter, auch während der Arbeitszeit. Da gibt es viele Präventionskurse.
Im Januar haben Sie angekündigt, Sie wollten dieses Jahr insgesamt 40 Pflegestellen aufstocken. Nun haben wir April. Wie weit ist dieses Vorhaben fortgeschritten?
Weiter als ich erwartet hatte. Ich muss zugeben, ich habe sogar eine Wette mit unserer Geschäftsführerin, Frau Massone, verloren.
Können Sie das mit Zahlen verdeutlichen?
Wir haben bis jetzt bereits 21 neue Leute für Püttlingen und zehn neue für Sulzbach. Und im Oktober kommen 40 frisch examinierte Fachkräfte aus der Pflegeschule hinzu. Die Verträge sind schon unterschrieben.
Wenn Sie über das gesteckte Ziel hinauskommen, gibt es dann einen Einstellungsstopp?
Nein, wir stellen weiter ein, machen weiter Personalwerbung. Momentan setzen wir auch Schwerpunkte, suchen Fachkräfte für ganz bestimmte Abteilungen. Beispielsweise bauen wir gerade die geriatrischen Betten und die neurologische Frühreha in Püttlingen aus, dadurch haben wir dort nochmals verstärkten Personalbedarf. Grundsätzlich suchen wir also mit voller Kraft weiter. Zu guten Pflegefachkräften, die bei uns anklopfen, sagen wir ganz bestimmt nicht nein. Sie sind zu wertvoll für uns.
Angenommen, Sie können übers Jahr die Pflegestellen wie geplant aufstocken oder sogar noch mehr Fachkräfte anlocken — reicht das, oder gibt es noch weitere Pläne?
Natürlich müssen die Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte ständig weiter verbessert werden. Wir haben da noch ein paar Ideen. Für die Zukunft planen wir zum Beispiel, sogenannte Präventologen einzusetzen, speziell geschulte Mitarbeiter, die auf die Stationen gehen und dort Kollegen vorübergehend aus dem Dienst herausnehmen. Sie bekommen dann eine individuelle „Anti-Stress-Behandlung" verpasst. Oft reicht eine Auszeit von zehn Minuten, um danach wieder frischer und entspannter weiterarbeiten zu können.
Sie selbst sind gelernter Pfleger, Intensivpfleger. Früher war die Pflege eine Frauendomäne. Pflegekraft war gleich Krankenschwester. Wie war das damals für Sie als Mann in der Minderheit?
Ich habe 1978 mein Pflegeexamen gemacht. Die meisten Männer sind damals nicht übernommen worden. Man wollte tatsächlich lieber Frauen einstellen. Bei den Knappschaftskrankenhäusern hatte ich Glück. Da war der Männeranteil höher wegen der vielen ehemaligen Bergleute, die umgeschult worden waren.
Haben die Männer seitdem zugelegt?
Nicht wirklich. Pflege ist heute immer noch überwiegend weiblich geprägt. Im laufenden Kurs der Krankenpflegeschule des Standortes Püttlingen, der 2018 begonnen hat, sind 25 weibliche und vier männliche Azubis.
Ist Pflege somit immer noch ein Frauenberuf?
Nein, überhaupt nicht. Es ist kein typischer Frauenberuf. Ich sehe den Beruf völlig geschlechtsneutral. Jeder, der gerne mit Menschen arbeitet, sollte sich für die Pflege interessieren. Die Krankenpflege ist mittlerweile zu einem sozial-technischen Gesundheitsberuf geworden. Wir haben eine Menge Digitalisierung. Gut, es ist kein einfacher Beruf. Aber einer, der viel Spaß macht und viel Abwechslung bringt.