Es ist gerade mal vier Jahrzehnte her, dass EU-Bürger ihr Parlament wählen dürfen. Selten waren die Umstände einer Wahl von derart vielen gleichzeitigen inneren und äußeren Herausforderungen geprägt. Der 26. Mai wird über mehr entscheiden als nur die Verteilung von Sitzen im Europaparlament.
Ein Entkommen ist dieser Tage ziemlich unmöglich. Das Wort von der Schicksalswahl für Europa ist allerorten präsent. Nun hört man das wahrlich nicht zum ersten Mal aus dem Mund der Wahlkämpfer, die um Zuspitzungen und Dramatik bemüht sind. In diesen Wochen allerdings scheint das Wort angemessen wie selten vorher bei einer Wahl.
Ein Blick auf die aktuelle Nachrichtenlage allein reicht aus, um genügend innere und äußere Herausforderungen zu beschreiben, die das Wort von der Schicksalswahl als berechtigt erscheinen lassen. Sicher kommt das große Wort etwas abgenutzt daher, das hat es gemeinsam mit dem Zustand der EU im Empfinden vieler. Die Fortschritte gehören zum Alltag, ohne dass man sich noch großartig Gedanken darüber macht, wie mühsam sie errungen wurden. Dabei haben die Diskussionen um den Brexit eindrucksvoll gezeigt, wie tiefgreifend die Gemeinsamkeiten gewachsen sind, bei allem, was noch an Wünschenswertem und Notwendigen auf der Agenda steht.
Die Beschreibung als Friedensprojekt wird hingenommen, als sei es eine pure Selbstverständlichkeit. Darüber kann und darf man sich ärgern. Es zeigt aber zugleich, wie historisch einmalig dieses Projekt Europa ist. Wo sonst auf dieser Welt wächst bereits die dritte Generation heran, die keinen Krieg vor der eigenen Haustür erleben muss, die sich nicht permanent rüstet, um diesen oder jenen Erbfeind zu überfallen, weil da noch irgendwelche Rechnungen offen sind. Im Gegenteil kann man nach Lust und Laune hin- und herfahren, ohne vorher Geld wechseln zu müssen und Papiere auf Vollzähligkeit zu prüfen.
Europa muss sich neu erfinden
Aber, und das macht diese Wahl tatsächlich zu einer Schicksalsfrage: Nichts von all dem ist mehr selbstverständlich. Im Inneren nicht, in den einst mühsam geschlossenen Bündnissen nicht, vom globalen Neusortierungsprozess ganz zu schweigen. Sieht man vom Brexit ab, bei dem zumindest die 27 EU-Mitgliedstaaten unerwartete Geschlossenheit demonstrieren, bestimmen Fliehkräfte in allen Himmelsrichtungen aus unterschiedlichen Gründen und Motiven und in unterschiedlichen Themenfeldern die Szene. Selbst innerhalb der Konfliktlinien sind einheitliche Allianzen oft nur schwer auszumachen. Das Pendel schlägt derzeit mehr in Richtung driftender Vielfalt als vertiefte Einheit, und es ist nicht ausgemacht, ob und wie sich ein neues Gleichgewicht einpendelt.
Europa muss sich selbst und seine Rolle im globalen Spiel der Kräfte neu erfinden, der Wahlkampf bietet dafür eine Bühne. Der ist zwar nach wie vor sehr auf die jeweils nationalen Situationen bezogen, was erfahrungsgemäß auch dazu beiträgt, dass die Europawahl zur reinen Protestwahl genutzt wird. Trotzdem rücken die europäischen Fragen deutlich stärker in den Fokus als bei früheren Wahlgängen. Das wiederum bringt den Nebeneffekt mit sich, dass man sich bei so mancher Äußerung von Spitzenpolitikern, die zunächst zu Hause eher Irritationen auslöst, gelegentlich fragen muss, an wen sie eigentlich adressiert ist. Dessen ungeachtet ziehen die Parteien mit deutlich schärferem Profil als früher in diese Wahl, erkennbar bemüht, mehr konkrete Antworten als wohlklingende Bekundungen anzubieten. Das alte Bild vom bananenkrümmungsregelnden Brüssel hält sich zwar schier unausrottbar, aber dem überwiegenden Teil der EU-Bürger ist bewusst, dass es heute um andere Fragen als Bananen, Gurken und Glühbirnen geht. Sicher ist auch, dass diese Wahl nicht nur hinsichtlich innerer Fliehkräfte und neuer Nationalismen entscheidende Weichen stellen wird.
Auch deshalb wird diese Europa-Wahl wie wohl kaum eine vorher in allen Teilen der Welt mit höchster Aufmerksamkeit verfolgt. Etwas holzschnittartig geht es um das Signal, ob mit der EU als selbstbewusstem, wertebasiertem Partner oder womöglich auch Konkurrenten zu rechnen ist, oder ob sich der alte Kontinent in Selbstbeschäftigung von der großen Bühne abmeldet.