Dass Kinder aus sozial benachteiligten Schichten weniger Chancen auf Bildungserfolge haben, gilt als wissenschaftlich gesichert. Eine neue Studie sagt nun: Auch der Erziehungsstil der Eltern und die emotionale Gesundheit der Kinder spielen eine zentrale Rolle.
Der Begriff der Chancengleichheit wird in den seit Jahrzehnten anhaltenden bildungspolitischen Diskussionen in deutschen Landen geradezu inflationär benutzt. Dabei steht längst außer Frage, dass die ökonomischen Ressourcen und das Bildungsniveau der Eltern einen ganz zentralen Beitrag zu Erfolg oder Misserfolg ihrer Sprösslinge leisten. Sprich: Kinder aus sozial schwachen Familien haben schlechtere Bildungschancen und daraus resultierend auch schlechtere Berufsaussichten als Jungen und Mädchen aus wirtschaftlich besser gestellten Haushalten. Das gilt inzwischen als sicherer Befund der hiesigen Bildungsforschung. Welche Mechanismen es allerdings genau sind, die letztendlich dafür sorgen, dass sich der niedrige soziale Status der Eltern auf den Bildungserfolg ihrer Kinder auswirkt, auf welch verschlungenen Wegen sich soziale Ungleichheiten von Eltern auf ihre Kinder übertragen, ist seit 50 Jahren Gegenstand soziologischer Wissenschaftsstudien.
In einer im Fachjournal „Acta Sociologica" Ende 2018 veröffentlichten Untersuchung haben die Soziologen Jianhong Li vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Till Kaiser von der Ruhr-Universität Bochum sowie Prof. Matthias Pollmann-Schult von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg einen neuen Erklärungsansatz präsentiert, bei dem vor allem die Erziehungsmethoden der Eltern und die daraus resultierenden seelischen Befindlichkeiten ihrer Sprösslinge im Fokus stehen. Das Resümee ihrer englischsprachigen Studie hatte das Trio im Dezember 2018 in allgemein verständlicher Form in den „WZB-Mitteilungen" unter dem Titel „Komplizierter als gedacht. Wie sich soziale Ungleichheit von Eltern auf Kinder übertragen" veröffentlicht. Ein wesentlicher Ansatz waren Kosten-Nutzen-Entscheidungen der Eltern bezüglich der Schulwahl, sprich die Erziehungsberechtigten hatten sich häufig aus Kostengründen gegen eine höhere Ausbildung mit Abiturabschluss zugunsten einer Berufsausbildung entschieden. Auch das Familien-Investment-Modell wurde angeführt, bei dem davon ausgegangen wird, „dass sich ein niedrigerer sozioökonomischer Status mittels Schichtunterschieden im Erziehungsverhalten in geringeren Bildungschancen der Kinder niederschlägt". Bei diesem Modell wurde vor allem die Rolle der Eltern bei der kognitiven und sozialen Entwicklung von Kindern und die Auswirkungen der Erwartungen und Ansprüche der Eltern bezüglich der Bildungsverläufe ihrer Kinder in den Mittelpunkt gerückt. Wieder andere theoretische Ansätze halten „soziale Schichtunterschiede bei den wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Ressourcen innerhalb der Familie" für ausschlaggebend.
Verhaltensauffälligkeiten wie Hyperaktivität und mangelhaftes Benehmen
Basis der neuen Studie waren frühere empirische Untersuchungen, aus denen abgeleitet werden konnte, dass Eltern mit niedrigem sozioökonomischem Status eher dazu neigen, nachteilige Erziehungsmethoden anzuwenden als Eltern mit hohem Status. Und dass der gesellschaftliche Status der Eltern auffallend stark mit der Häufigkeit von Verhaltensauffälligkeiten von Kindern korreliert, sprich diese Verhaltensauffälligkeiten kommen deutlich häufiger in benachteiligten Haushalten vor. Pointiert könnte die Fragestellung abgeleitet werden, ob Kinder aus sozial schwachen Familien womöglich geringere Aussichten auf Schulerfolge haben, weil sie von ihren Eltern falsch erzogen werden und dadurch leistungshemmende Faktoren wie Hyperaktivität oder mangelhaftes Benehmen begünstigt werden.
Daher haben die drei Soziologen untersucht, ob psychologische Faktoren, vor allem spezielle Verhaltensweisen der Eltern im Umgang mit ihren Kindern, und Verhaltensauffälligkeiten bei den Kindern ein mögliches direktes Verbindungsstück zwischen dem sozialen Status der Eltern und den Bildungserfolgen der Kinder sein können. Die Forscher werteten für ihre Arbeit die Daten der im Auftrag des Bundesfamilien- und -finanzministeriums erstellten Studie „Familien in Deutschland" (FiD) aus. Dabei waren 816 Kinder im Alter von neun bis zehn Jahren und deren Eltern bezüglich des Erziehungsverhaltens, etwaiger Verhaltensauffälligkeiten der Kinder und der Schulnoten in den Fächern Deutsch und Mathematik befragt worden. Bei der Analyse wurden fünf Erziehungsaspekte überprüft: inkonsequente Erziehungsstrategien, strenge Erziehung, negative Kommunikation, emotionale Wärme und psychologische Kontrolle.
Was die Verhaltensauffälligkeiten anging, so interessierten sich die Wissenschaftler vor allem für sogenannte externalisierte Probleme, die sich in Hyperaktivität oder mangelndem Benehmen ausgedrückt hatten, sowie für sogenannte internalisierte Probleme, die sich in emotionalen Defiziten oder Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Kindern gleichen Alters bemerkbar gemacht hatten. Auffällig war, dass vor allem zwei Erziehungsstile, nämlich inkonsequente Erziehung und psychologische Kontrolle, deutliche Auswirkungen bezüglich externalisierter Probleme zeitigten. Generell konnte zudem festgestellt werden, dass Kinder aus benachteiligten Familien öfter Verhaltensprobleme offenbarten als solche aus bessergestellten Familien. Und dass ein niedriger sozialer Status der Eltern nachteilige Erziehungsstile zur Folge haben kann, die wiederum vor allem zu externalisierten Problemen der Kinder und letztendlich zu schlechteren Schulnoten führen können. Die Forscher zogen folgendes Resümee: „Wir wissen nun, dass es nicht nur die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Ressourcen sind, die dazu beitragen, dass Kinder aus bessergestellten Haushalten größere Bildungserfolge aufweisen als benachteiligte Kinder im selben Alter. Psychologische Faktoren wie die Fähigkeiten der Eltern in der Kindererziehung und die emotionale Gesundheit der Kinder sind ebenfalls von hoher Bedeutung."
„Grundbildung für alle" statt Chancengleichheit?
Zu einem ähnlichen Ergebnis war auch schon eine 2013 publizierte repräsentative Umfrage des Instituts Allensbach gekommen. Auch dort wurde den Eltern eine große Mitschuld bei etwaigen Bildungsmisserfolgen ihrer Kinder zugeschoben, weil sich manche Eltern in der Erziehung einfach zu wenig um ihre Kinder und deren Fortkommen gekümmert hatten. Mangelnde Erziehung und eine fehlende Vorbildfunktion wurden als wesentliche Ursachen für schlechtere Chancen des Nachwuchses ausgemacht ‒ weit vor unterschiedlicher Begabung der Kinder oder den finanziellen Möglichkeiten der Eltern. Das mangelnde Interesse vieler Eltern habe sich in schlechteren Noten der Kinder niedergeschlagen, denen dadurch jegliche Lust am Unterricht abhanden gekommen war.
Es bleibt daher noch viel zu tun, um dem hehren Ziel der Chancengleichheit im Bildungswesen irgendwann mal nahezukommen. Auch wenn von staatlicher Stelle in den vergangenen Jahrzehnten schon viel bewegt wurde. Angefangen von der Abschaffung des Schulgeldes zwischen dem Ende der 1940er- und Anfang der 1960er-Jahre, der von Bundesland zu Bundesland bis heute unterschiedlich gehandhabten Lernmittelfreiheit oder dem Ausbau der Vorschulerziehung in Kindertagesstätten und Krippen. In der Schweiz wird das Thema Chancengleichheit ebenso heiß diskutiert wie hierzulande. In einem Ende März 2019 veröffentlichten Artikel für die „Neue Zürcher Zeitung" hat Walter Herzog, Professor am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Bern, angeregt, sich womöglich sogar vom Ziel der Chancengleichheit zu verabschieden und stattdessen nur noch eine „Grundbildung für alle" anzustreben. „Allen soll ermöglicht werden, sich so viel Bildung anzueignen, wie es braucht, um in einer modernen Gesellschaft ein selbstbestimmtes Leben führen zu können", so Prof. Herzog. „Definiert wird ein Mindestmaß an Bildung, das nicht unterschritten werden darf, wenn ein Bildungssystem als gerecht beurteilt werden soll. Ungleiche Bildungschancen müssen kompensiert werden, sofern sie unterhalb dieses Schwellenwerts liegen, aber nicht, wenn sie darüber liegen."
Man darf allerdings nicht außer Acht lassen, dass gesellschaftliche Modernisierung unmittelbar mit der Zunahme höherer Bildung zusammenhängt. Dass sich Gesellschaften nur modernisieren können, wenn immer mehr Mitglieder dieser Sozialwesen immer länger die Schulen besuchen, diese mit möglichst hoch qualifizierten Abschlüssen absolvieren und dann möglichst erfolgreich an der ständig weiter akademisierten Arbeitswelt teilhaben können.