Das exportorientierte Saarland steckt mitten in einem weiteren Strukturwandel. Wirtschaftsministerin Anke Rehlinger (SPD) im FORUM-Redaktionsgespräch über Schuldenbremse als Investitionsbremse, Gestaltungschancen im Wandel und Perspektiven für gleichwertige Lebensverhältnisse.
Frau Rehlinger, das Saarland hat große Anstrengungen hinter sich, um das Ziel der Schuldenbremse zu erreichen. Nun steht diese Schuldenbremse im Zusammenhang mit notwendigen Investitionen erneut zur Debatte. Wo ist das Problem?
Die Diskussion, ob die Schuldenbremse, so wie sie ausgestaltet ist, ein zukunftsträchtiges Modell ist, wird immer stärker. Wir haben es mit einer anhaltenden Niedrigzinsphase zu tun. Wenn ich in die Infrastruktur, in Digitalisierung usw. investieren muss, dann mache ich das am besten in Zeiten, in denen die Zinsen niedrig sind. Das spricht dafür, dass man sich jetzt Spielräume eröffnet. Und der Bedarf ist jetzt da, teilweise nachholend, wenn es um die Infrastruktur geht, teilweise auch für die Zukunft zwingend notwendig für alles, was wir in Deutschland an Innovation haben wollen. Wenn ich mir beispielsweise die Digitalisierung ansehe oder den Bereich der Mobilität oder den Klimaschutz, dann weiß ich nicht, ob wir das nötige Geld haben, wenn wir die Schuldenbremse so rigoros anwenden, wie sie zur Zeit angewandt werden muss. Oder Stichwort Elektrifizierung der Bahnstrecken, damit wir von den alten Dieselloks wegkommen. Oder die Riesensummen, die auf Dauer für die Digitalisierung des Verkehrssektors – etwa Bahn und Autobahnen - gebraucht werden. Oder Thema Breitband: Wenn ich mehr Homeoffice mache, stellt sich die Frage, ob ich einmal in der Woche in die Stadt fahren muss, um meinen Stick abzugeben, oder ob ich eine vernünftige Internetanbindung habe auch auf dem Land. Und da habe ich noch gar nicht über klassische Investitionen gesprochen in Straßen, Brücken, Gebäude, auch energetische Sanierung. Das ist nicht zum Nulltarif zu haben.
Das wäre ein Paradigmenwechsel, den die Linke schon lange fordert. Zeichnet sich dafür jetzt eine Chance ab?
Diese Diskussion wird derzeit zum Beispiel von Michael Hüther (Anm.: Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft) geführt, der nicht gerade an der Spitze der sozialistischen Internationale steht. Es liegt auch auf der Hand, für Investitionen mehr Spielräume zu schaffen. Wohlbemerkt: Es geht nicht um billiges Geld für konsumtive Ausgaben, sondern um Investitionen in die Zukunft. Auch der Strukturwandel erfordert, dass wir mehr Geld in die Hand nehmen. Es geht um zwei neue Aufgaben: Die Transformation der Automobil- und der Energie- und Kraftwerkswirtschaft. Das wird eine große Kraftanstrengung. Wenn man politische Entscheidungen trifft, dann muss man sie auch finanziell flankieren.
Die Kohlekommission hat für Strukturwandel 40 Milliarden Euro als Hausnummer genannt. Das Saarland ist dabei noch außen vor.
Ich haue, wo immer ich bin, auf die gleiche Pauke: Das Saarland muss berücksichtigt werden. Wir wollen keine Almosen, sondern Investieren, damit wir unsere Zukunft selbst gestalten können. Darauf zielen alle unsere Vorschläge ab. Uns geht es nicht um Sportplätze oder Skatebahnen, unsere Vorschläge sind für den Strukturwandel wichtig, etwa im Bereich der Forschung und Innovation, für den Energiestandort, für unsere zukunftsfähigen Industrien. Der Zeitpunkt, darüber zu reden, ist jetzt, nicht erst im Herbst. Jetzt erst einmal 40 Milliarden zu verteilen, und dann erst im Herbst über die Steinkohle zu reden, hat vielleicht etwas mit Landtagswahlen zu tun, ist aber durch nichts inhaltlich zu begründen.
Der Weg wäre also, Investitionen rechnerisch aus der Schuldenbremse auszunehmen?
Die Schuldenbremse darf nicht faktisch zu einer Investitions- und Innovationsbremse werden. Dort, wo sie das bereits ist und Fortschritt und Zusammenhalt ausbremst, muss man darüber nachdenken, welche Möglichkeiten wir einräumen, dort in die Zukunft zu investieren, wo es notwendig ist. Ich höre zunehmend aus der Wirtschaft und von Ökonomen, dass man sich darüber Gedanken macht. Bei unserem Koalitionspartner CDU scheint das Nachdenken noch nicht so weit, ich glaube aber, dass man das Thema nicht einfach ignorieren kann.
Im Zusammenhang mit der Schuldenbremse ist neben der Ausnahme für Investitionen immer auch eine Ausnahme für Bildung gefordert worden. Steht das auch auf der Agenda?
Wir investieren natürlich auch jetzt schon. Wir werden die Kita-Beiträge schrittweise halbieren – eine enorme Entlastung für Familien. Aber wir werden weitere Freiräume brauchen. Klar ist, dass neben Investitionen in Infrastruktur, die Investitionen in die Köpfe, vor allem in die jungen Köpfe, ein zentrales Thema sind. Stichwort Digitalisierung: Wir können soviel Kabel verlegen und technische Innovationen an Universitäten entwickeln, wie wir wollen. Wenn wir keine Fachkräfte mehr haben, die damit umgehen können, besser noch, die zum Beispiel das Auto von morgen entwickeln können, dann wird Deutschland seine technologische Spitzenposition verlieren und wird sicherlich auch unser Wohlstandsmodell Kratzer bekommen.
Wir hören derzeit im Saarland unterschiedliche Botschaften: Abbau bei FORD, Großauftrag bei ZF, Schwierigkeiten bei Bosch, Spatenstich für Großinvestition auf dem Lisdorfer Berg. Wo geht die Reise hin?
Es gibt in der Tat widersprüchliche Signale. Aber die Positiv-Botschaften zeigen uns, dass man die Chance hat, den Wandel zu gestalten. Da ist ZF sicherlich ein Superbeispiel. Wer den Mut hat, Entscheidungen zu treffen und sich auf Zukunft einzulassen, der hat dann auch eine. Wir wollen unser Land nicht ins Museum stellen, sondern zum Beispiel das Auto von morgen bauen. Es wird immer ein unternehmerisches Risiko sein, welches Geschäftsmodell ich verfolge. ZF hat das getan, den Markt sehr genau analysiert, was auf einer bestimmten Zeitschiene Zukunft haben wird, hat sich für die Hybridtechnologie entschieden, investiert und damit einen Großauftrag ins Saarland geholt. Dazu kommt, dass der Arbeitsmarkt glücklicherweise stabil ist. Auch wenn wir damit rechnen müssen, dass im Automobil-Bereich Arbeitsplätze wegfallen, sind wir in der Lage, in anderen Bereichen und anderen Branchen Arbeitsplätze entstehen zu lassen. Nobilia am Lisdorfer Berg ist mit eintausend zusätzlichen Arbeitsplätzen ein ganz wichtiges Signal, auch ein ermutigendes, weil damit deutlich wird, dass viele strategische Entscheidungen sich als richtig erweisen. Zum Beispiel, dass wir großräumige Industrieflächen zur Verfügung zu stellen, was wir auch fortsetzen. Das gilt auch fürs Marketing: das Saarland als europäischen Standort zu präsentieren, von dem aus man vor allem auch den französischen Markt bedienen kann. Und dass wir ein Land der kurzen Wege sind, haben die Investoren bestätigt. Ein anderes Beispiel ist die Gesundheitswirtschaft als einer der Wirtschafts- und Wachstumsmotoren, wo wir alle Hände voll zu tun haben, dass der Fachkräftemangel nicht zum Flaschenhals dieser Entwicklung wird. Oder das Beispiel Tourismus mit 33 000 Arbeitsplätzen in Gaststätten und Hotellerie als großer Wirtschaftsbereich. Es gibt also Chancen. Natürlich ist es für das Saarland erst einmal ein harter Schlag, wenn bei FORD 1600 gut bezahlte Arbeitsplätze wegfallen. Wir haben eine große Kraftanstrengung vor uns, aber wir haben auch viele ermutigende Beispiele, dass uns das gelingen kann.
Macht es nicht auch Sinn, den Standort grenzüberschreitend zu betrachten? Gibt der „Aachener Vertrag“ im Blick auf die Zusammenarbeit mit den französischen Nachbarn neue Möglichkeiten und Impulse?
Ich finde es zunächst einmal eine gute Idee, dass man den „Elysée-Vertrag“ für die Jetzt-Zeit formuliert hat. Da stehen eine ganze Reihe von Chancen und Möglichkeiten drin. Ich glaube, dass wir an einem Punkt sind, wo europapolitische Grußworte alleine nicht mehr ausreichen. Texte ohne Taten sind einfach nur Gerede, und von Gerede kann kein Saarländer leben. Deshalb wollen wir, dass die Chancen, die im Aachener Vertrag angelegt sind, realisiert werden. Ich empfinde etwa das DFKI als deutsch-französische Kooperation als ein perfektes Beispiel, wo solche Zusammenarbeit realisiert werden kann. Wo könnte es besser angesiedelt sein als hier im Saarland, gemeinsam mit unseren französischen Nachbarn. Oder wenn es um die Verhandlungen der Fernverkehrsverbindungen Frankfurt-Saarbrücken-Paris geht, ist meine Forderung, dass es keine weitere Streichung einer Verbindung mehr geben darf. Wenn das aber nur zwei Unternehmen miteinander verhandeln und sich die Politik, gemeint ist die Bundespolitik, nicht einmischt, dann kann es sein, dass ein Ergebnis rauskommt, das vielleicht einen betriebswirtschaftlichen, aber keinen europäischen Geist trägt. Wenn man Europa leben will, dann müssen die Menschen auch zueinanderkommen können. Wir haben eine Verbindung, die in einem europäischen, einem deutsch-französischen Geist auf den Weg gebracht wurde, und die darf nicht verloren gehen. Pathos ist gut, weil es begeistert, aber es trägt alleine nicht in die Zukunft. Da braucht es Taten, deshalb dränge ich darauf, dass auch konkret geliefert wird.
Beim Thema europäischer Geist ist das Stichwort Brexit unausweichlich. Sie haben kürzlich Maßnahmen für etliche Eventualitäten vorgestellt. Es kann sein, dass die Arbeit umsonst war.
Ich arbeite nicht gerne umsonst, aber an dieser Stelle hoffe ich es. Der beste Brexit wäre: Gar kein Brexit. Trotzdem hielt ich es für notwendig und die Unterstützungen für die Wirtschaft bieten wir trotzdem an. Ein harter Brexit wäre ein harter Schlag für Europa, für Deutschland und auch für das Saarland. Großbritannien ist der zweitgrößte Exportmarkt, besonders wichtig für Auto- und KFZ-Teile-Hersteller. Gerade für kleine und mittlere Unternehmen haben wir eine Anlaufstelle eingerichtet, wir haben einen Brexit-Beauftragten. Bei einem harten Brexit wäre Großbritannien ein Drittstaat, wir bieten dann Beratung an, wie zum Beispiel mit den neuen Zollbestimmungen umzugehen ist. Mittelfristig bieten wir mit saaris und IHK an, mit den Unternehmen neue Absatzmärkte zu erkunden. Dafür haben wir Mittel bereitgestellt, um die Internationalisierung unserer Wirtschaft zu fördern. Letztlich wird aber kein Bundesland alleine in der Lage sein, die Folgen eines harten Brexits abzufedern. Da werden weder EU noch Bundesregierung unsere Industrie hängen lassen können. Wir hatten einen Rettungsschirm für Banken, warum nicht über einen Rettungsschirm für die Arbeitsplätze in der Industrie nachdenken? Das muss nicht bares Geld sein, sondern Instrumente, die helfen, die Zeit zu überbrücken, bis sich die Unternehmen neu orientiert haben, etwa Bürgschaften.
Eine andere Baustelle sind die Kommunen mit ihren hohen Schuldenlasten. Die komplette kommunale Spitze des Landes hat kürzlich in Berlin auf die Situation hingewiesen. Ist die Hoffnung auf die Kommission für gleichwertige Lebensverhältnisse berechtigt?
De Kommission gleichwertige Lebensverhältnisse ist nach meiner Einschätzung eine der großen Chancen und Möglichkeiten der großen Koalition. Ich hoffe, dass allen in Berlin bewusst ist, dass die Hoffnungen groß sind. Ich glaube, dass gerade eine große Koalition in der Lage wäre, sich der Frage gleichwertiger Lebensverhältnisse im ganzen Land anzunehmen. Wir erleben das ja gerade bei der Übertragung der Tarifergebnisse für die Beamten: Wir haben einen schönen Erfolg erzielt bei der Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern, müssen aber sehen, dass es eben nicht ausreicht, um einen Aufholeffekt zu erzielen. Wir haben als Land zwar den Kopf wieder über Wasser, aber alle anderen schwimmen immer noch deutlich vor uns und wir haben kaum Chancen, aufzuschließen. Das wird nur möglich sein, wenn man strukturelle Nachteile beseitigt, die übrigens mit der Entstehung des Landes zu tun haben. Wir haben hier keine Bundesbehörden und nur ganz wenige Unternehmenssitze, die waren schon alle verteilt. Darin sind wir den ostdeutschen Bundesländern sehr ähnlich. Unser Saarland liegt auf dem letzten Platz, wenn es um die Finanzkraft geht, aber im guten Mittelfeld, wenn es um die Wirtschaftskraft geht. Das heißt umgekehrt: Mit wenig Geld kriegen wir noch richtig viel hin. Gleichwertige Lebensverhältnisse sind ganz lebenspraktisch: Saarländerinnen und Saarländer fragen sich zum Beispiel, warum sie Kita-Gebühren bezahlen müssen, während Rheinland-Pfalz sie abschafft. Wir wollen keinen Luxus, den andere nicht haben, wir wollen nur aufschließen zu anderen Bundesländern. Die Verschuldungssituation der Kommunen hat mit den Strukturen im Land zu tun, und das muss anerkannt werden. Die hohen Kassenkredite der Kommunen sind eines von vielen Problemen. Eine Altschuldenregelung für die Kommunen zu finden war Thema in den Koalitionsverhandlungen und mit ein Grund, warum man die Kommission eingesetzt hat. Es ärgert mich zunehmend, dass davon in Berlin niemand mehr etwas hören will. Deshalb fordere ich das an allen Stellen, in Berlin und Brüssel, egal welches Parteibuch der jeweils Verantwortliche hat. Ich will dasselbe wie die Bürgermeister, die vor Kurzem nach Berlin gefahren sind: Ich will Fairness und Gerechtigkeit für das Saarland.
Kurz vor Europa- und Kommunalwahlen die Frage an die SPD-Landeschefin zum Zustand der Partei. Vor zwei Wochen hat der Parteitag stärkere Mitwirkungsrechte der Basis und eine Öffnung zur Mitarbeit auch für Nicht-Mitglieder beschlossen und sich als „einladende Partei“ präsentiert. Symbolik oder hilft das der Partei?
Ich bin fest davon überzeugt, dass Offenheit, Mut zur Debatte und enge Einbindung der Basis helfen. Ich habe aber ohnehin nicht den Eindruck, dass die Saar-SPD ein Verein von Trauerklößen ist, sondern dass wir gut unterwegs sind im Land und das auch anerkannt wird. Auf der kommunalen Ebene werden etwa 70 Prozent der Saarländerinnen und Saarländer von sozialdemokratischen Bürgermeisterinnen oder Bürgermeistern und Landräten vertreten. Es ist eine Grundbedingung für politischen Erfolg, sich offen zu zeigen, Fenster und Türen zu öffnen und sich vor allem um die Alltagsprobleme der Leute zu kümmern. Und wenn wir auf die Bundesebene blicken: Jetzt, wo die SPD angefangen hat, statt rückblickend über die Agenda 2010 zu lamentieren über den helfenden Sozialstaat der Zukunft zu diskutieren, kann man auch wieder Mitglieder und vor allem Bürgerinnen und Bürger begeistern. Das ist ein Prozess. Deshalb bin auch nicht nervös, wenn sich das nicht sofort in Umfragewerten widerspiegelt. Ich glaube, es ist der richtige Weg, sich zu öffnen, Nicht-Mitglieder ihre Expertise einbringen zu lassen und sich als Schutzmacht um die Sorgen der Menschen zu kümmern.
Bei der Europawahl könnte es auch aufgrund der Vergabe der Listenplätze bei der SPD zum ersten Mal passieren, dass das Land keinen Europaabgeordneten hat. Für das Selbstverständnis als „europäischstes aller Bundesländer“ eigentlich kaum vorstellbar.
Ich bin zuversichtlich, dass Jo Leinen dem nächsten Europaparlament wieder angehören wird. Die Umfragen zeigen in die richtige Richtung. Jetzt wollen wir mal einen kämpferischen Wahlkampf machen, damit das klappt. Jo Leinen war immer eine klare Stimme für das Saarland, für Europa, und eine laute Stimme braucht es in diesen Zeiten erst recht.