Rund 400 Millionen Europäer dürfen an diesem Wochenende ihr Parlament wählen. Zwischen Brexit und Video-Skandal, zwischen Trump und Putin ist der alte Kontinent auf der Suche nach neuer Identität.
Es hatte fast den Anschein, als wollte Zeus persönlich seiner Geliebten Europa einen Strich durch die Rechnung machen.
Pünktlich zum geplanten Start des traditionellen Europafestes auf der Freundschaftsbrücke zwischen den Partnergemeinden Kleinblittersdorf (Saarland) und Großbliederstroff (Frankreich) schien der unter anderem fürs Wetter zuständige Göttervater alle Schleusen des Himmels zu öffnen. Die hartgesottenen Europafreunde ließen sich nicht vertreiben. Schließlich schien die Europahymne Zeus zu versöhnen, die Himmel lichteten sich. Eine Menschenkette verband symbolisch die Ufer der Saar zwischen den beiden ehemaligen Erzfeinden. Europa in Grenzregionen, zumal wenn sie ehemalige Aufmarschgebiete sind, ist konkret, mit allen Vorteilen, aber auch allen noch bestehenden Hürden und Ärgernissen.
In Grenzregionen wird wie sonst kaum irgendwo klar, was ein Zurück in Nationalstaaten bedeuten würde, was an mühsam errungenen Fortschritten weggeblasen wäre. So gesehen ist dort jede Europawahl eine Schicksalswahl.
Entscheidende Weichenstellung
Natürlich sind auch Menschen in Grenzregionen nicht vor der Versuchung gefeit, die Europawahl als Denkzettel für die eigene nationale Regierung zu nutzen, in Deutschland gegen die GroKo, in Frankreich gegen Macron. Nur sieht man dort die Dinge differenzierter, das schier unvermeidliche Brüssel-Bashing hat einen anderen Tonfall als andernorts. Ein Drittel der EU-Bevölkerung lebt in solchen Grenzregionen.
Dass die Weiterentwicklung eines „Europa der Regionen" in diesem Wahlkampf fast keine Rolle spielt, liegt schlicht daran, dass dieser alte Kontinent zuerst einmal eine neue Rolle finden muss. Viel ist von einem „starken Europa" angesichts der Herausforderungen von außen wie im Inneren die Rede. Von den Werten und Prinzipien, auf denen dieses einzigartige Projekt fußt. Ein Projekt, das derzeit wirkt, als stecke es mitten in der Pubertät, Hauptsache erst einmal dagegen scheint das Grundmotiv. Europa muss erwachsen werden, schlussfolgern die einen. Europa muss sich neu erfinden, die anderen. Beides ist zutreffend. Was noch fehlt ist eine prickelnde Vorstellung von dieser neuen, erwachsenen Identität. Diese Wahl wird entscheiden, ob sich die Europäer für die Suche danach eine tragfähige Basis geben.