Es lohnt sich, die Vorhänge beiseitezuschieben. Im „The NoName" an der Oranienburger Straße macht David Kikillus noch im Verborgenen mit seinem neuen Restaurant in sechs oder acht Gängen die feine Welle.
Schwierig, nicht „Fräulein Fuchs" vor Augen zu haben, wenn man ans „The NoName" denkt. Die Frauenfigur in Fetisch-Kleidung ist zweifellos der Blickfang an der Stirnwand des Restaurants an der Oranienburger Straße. Urban-Art-Künstlerin Anne Bengard schuf das Wandgemälde, ein Bondage-Künstler erzielt mit kunstvoll quer durch den Raum geknüpften Seilen den Eindruck, das „Fräulein" schwebe im Raum. Eine Projektion von Tiziano Mirabella verstärkt die Wirkung noch. Die „große Lightshow" mit Flammenwurf und Monstern wird allerdings erst nach Dinner-Ende aufgefahren. Die Gäste unterhalb säßen sonst in einer orangefarben wallenden Wand und wären vom Essen abgelenkt.
Die Kunst sorgt auch bei uns am anderen Ende des langen Raumes immer wieder für Gesprächsstoff. Doch natürlich sind wir wegen des Essens von Küchenchef David Kikillus vor Ort. Das muss sich in den sechs Gängen, durch die wir uns an diesem Abend hindurchessen, keineswegs hinter der Kunst verstecken. Ein Kombu-Algen-Chip mit einer Mayo aus Seeigel-Eiern, Saiblingskaviar und Algen sowie Mini-Cannelloni mit Langustino-Tatar, Avocado und Yuzu zeigen schon im Prolog, dass Kikillus etwas mit Meeresgetier am Laufen hat. Die nicht-fischessende Begleiterin bekommt unkompliziert ein Röllchen mit Rindertatar.
Beim Macaron mit grünem Apfel, der mit Apfelgel und Foie gras gefüllt und mit Hibiskusstaub bepudert ist, sind der Fotograf, die Begleiterin und ich wieder auf einer Linie. Steve Hartzsch, in der Berliner Premium-Riege der Sommeliers kein Unbekannter, trifft mit seinen Vorschlägen unsere unterschiedlichen Geschmäcker: Ein weißer Wermut aus selbst angebauten Muskatellertrauben von Lisa Bauer vom „Freimeisterkollektiv" darf’s für die herbere Begleiterin sein, ein Weißwein aus Uhudler-Trauben für den Fotografen und ein Drink aus entsafteter weißer Bete, die sich mit Lavendelsirup, Rhabarber-Shrub und Soda wohlfühlt, für mich. Ein Austern-Gang entzückt uns mit Hübschheit und in fein austarierter Intensität. „Das sind Geschmacksminen im See, die immer wieder aufpoppen", poetisiert der Fotograf. Gillardeau-Auster wurde tatarisiert und von einem Sud von Auster, Sanddorn und Joghurt umgossen. Mal mit, mal ohne Dill und mit Austernemulsion in Taschen aus gepickeltem Kohlrabi gesteckt. Schockgefrostete Sanddornperlen umtüddeln eine Gurkengeleehülle, aus der uns ein Sanddorngelee im Mund anspringt. Auf einem Steinbett lagert ein Begleitchip aus Austernbrot mit Algenpüree und Austernemulsion.
Stern dürfte nur Frage der Zeit sein
Ein Glück, dass die Küche auch ohne die gewünschte Veggie-Ansage 72 Stunden vorher flexibel ist: Die Begleiterin erhält ihre Täschchen mit Kohlrabicreme gefüllt und mit Buttermilch angegossen. Es zeigt sich, was sich den ganzen Abend durchziehen wird: Die Küche führt die Gäste und setzt sie auf eine geschmacksintensive Spur.
Die Marschrichtung Stern und Punkte ist klar erkennbar. Der Weg darf für David Kikillus jedoch variantenreich, international und ohne starre Leitplanken sein. Der 37-Jährige, der nach sieben Monaten 2013 bis 2015 in Dortmund mit einem Stern reüssierte, landete nach einigen Schleifen als Gastkoch in Peking, Bombay und Dubai bewusst in Berlin.
Es sei eine Qualität seines Berufs, mit weit geöffneten Augen durch die Welt zu gehen und immer neue kulinarische Eindrücke sammeln zu können.
Eigentlich sei er aber „nur für das Hotel gekommen", erzählt Kikillus. Das soll in Lichterfelde in einem ehemaligen Frauengefängnis entstehen. Eigentümer Joachim Köhrich gehören aber ebenfalls die Heckmannhöfe in Mitte. „Der Eigentümer entschloss sich, das Café Orange wiederzubeleben."
An das langjährig in den Räumen gewesene Caféhaus erinnern das hölzerne hohe Rückbüffet am Tresen, die Jugendstilleuchter und Stuckdecken. Gewiss ist Kikillus im „The NoName" näher an internationalen, kulinarisch weltoffenen Gästen dran und neben den Heckmannhöfen gut aufgehoben. Aber warum so zurückgezogen hinter den bodenlang umlaufenden weißen Vorhängen auch in den Fenstern zur Oranienburger Straße hin?
Eine Lounge auf der Terrasse sei in Planung, verrät Kikillus. Nicht zuletzt: Das „The NoName" eröffnete erst Ende März; man groovt sich langsam ein.
Karte wechselt alle sechs Wochen
Der Küchenchef will sich und sein Team jedenfalls nicht langweilen – alle sechs Wochen soll die Karte mit dem achtgängigen Menü für 105 Euro und dem sechsgängigen Menü für 85 Euro wechseln. „Es kommt immer auch auf meine Laune an", sagt Kikillus über seine Präferenzen. „Ich liebe Tauben, Langostinos und Carabineros. Und ich könnte jeden Tag Spargel essen." Davon können wir uns überzeugen. Ein im Ganzen gebratener Carabinero macht sich auf dem Teller lang und dann mit großer Zartheit im Mund breit. Als Tatar versteckt er sich in einer Banderole von eingelegtem Spargel. Wer zu viel Sanftmut fürchtet, hat die Jalapeño-Creme noch nicht probiert, die Carabinero, Dillöl und Brathähnchen-Sud Feuer macht. „Ich muss eine Scarpetta machen", seufzt der italienische Feinschmecker-Fotograf. Er dreht mit seinem „Schühchen" aus frischem Sauerteigbrot eine schnörkelige Extrarunde durch die Sauce auf dem Teller. Die Begleiterin wird alternativ mit Wagyu-Tatar beglückt, das mit einem Gel aus fermentiertem Gurkensaft, Wachteleigelb und Sumach-Gewürz angemacht und von Sauerklee und Blüten bedeckt ist.
Der Zwischengang ist eine grüne Aromabombe: Estragon-Sorbet mit Kamillenbaiser, „Frühlingsboten"-Kräutlein wie Wiesenkerbel, Wiesensauerampfer, Zaunerbse und Vogelmiere schlagen ein. Der Estragon spielt weit vorne mit, kippt aber nie ins Lakritzige. Er prickelt lange am Gaumen nach. „Mich erinnert es an wilden Fenchel. Es schmeckt nach Sardinien", sagt der Fotograf, der von der Insel stammt. „Das ist mein Proust’scher Moment." Ich sage: „Die Gerichte sind nie nur das, was sie sind. Sie sind wie Lyrik – sie lassen in der gelungenen Verdichtung großen Freiraum zur eigenen Interpretation zu."
„Dieser Gang ist wie Zähneputzen", holt uns die Begleiterin wieder prosaisch auf die Erde zurück. „Das Sorbet erfrischt und kleidet den Mund vollständig aus." Gastro-Poesie-Kurve gerade noch einmal gekriegt!
Schon geht es mit einer an der Karkasse gebratenen Imperial-Taube und einem Praliné von der Keule weiter. Aubergine begleitet sie als Creme und in confierter Form. Gebrannte Perlzwiebel, schwarzes Knoblauchgel, Cranberry-Gelee, Kefirschaum und Pistaziencrumble zeigen, in welcher Gesellschaft sich Kikillus seine Taube vorstellt. Dazu kommt ein Roter aus Galizien, „aus einer gottverlassenen Gegend, in der man gar keine schlechten Weine machen kann", wie Steve Hartzsch den 2017er Lousas von Envinaté ankündigt. „Der ist laut, schon in der Nase." Der biodynamische Spanier aus dem dörflichen Abseits mit den steilen Hängen und den Schiefer- und Granitböden passt hervorragend zur anfängertauglich unblutigen, aber dennoch kräftigen Taube.
Zur hohen Kunst der Patisserie gibt es traumhaften Wein
Wir müssten auch noch deutlich mehr über den Bouvray, einen Süßwein von der Loire aus Chenin-Blanc-Trauben, reden. Er ist eine Einzelauslese vom Weinberg „Le Mont", durfte seit 2008 im Holzfass reifen. Die einem Riesling ähnliche Süße, der seine Frische trotz Holz und Alter nie verliert, möchte ihrerseits aber dringend mit dem Heumilch-Eis, mit dreierlei Chips und einem Crumble aus weißer Schokolade sprechen. Eis, Steinpilz-Krokant-, karamellisierter Milchhaut- und flambierter Baiser-Chip schmelzen und knacken harmonisch mit dem Wein zusammen. Einen herzlichen Dank an Patissier Benjamin Klee für diese Kostprobe seines Könnens.
Wir schweigen uns genüsslich durch das zweite Dessert mit Fourme d’Ambert-Käse, Birne und Haselnuss und einem fünf Jahre alten Medium-Dry-Madeira hindurch, und happsen den Epilog aus Erdbeer-Vanille-Macaron, Pfannkuchen mit Miso-Vanille und Ananas-Fichten-Schnüren auch noch wohlig weg. Wer das „The NoName" kennenlernen will, der zücke also seine Kreditkarte und zahle den Menüpreis.
Das ist in Berlin noch unüblich, für einen Neuling am Platze und ohne scharfes Konzept gewagt, jedoch wegen des „No Show"-Risikos für den Gastronom durchaus nachvollziehbar. Der Vorab-Ticket-Kauf à la Oper oder Konzert lohnt den Einsatz und den Genuss im „The NoName" allemal.