Ein Führungstrio soll die SPD-Führungslücke, die Andrea Nahles hinterlässt, vorübergehend schließen. Ein Übergang, bei dem völlig unklar bleibt, wohin er führen kann, soll und wird.
Spötter hätten derzeit leicht lästern: Die SPD bestimmt wieder die Schlagzeilen. Und die CDU kann den Sozis bei allem ersten Erschrecken fast dankbar sein. Die Kritik an Pannen, Fehlern und Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer rutscht erst einmal bei den Headlines nach hinten, hinter die neuerliche SPD-Führungssuche und die damit unweigerlich neue Debatte um den Fortbestand der Groko.
Die kurzfristig aufgetauchte Frage nach dem Umgang mit dem eigenen Führungspersonal mag Ausdruck der Überraschung gewesen sein. Der Anflug von Selbsterkenntnis wird im Berliner Haifischbecken kaum von Dauer sein. Was schon vor dem Komplettrückzug von Andrea Nahles zu beobachten war, offenbart neben den ohnehin bekannten noch ein neues SPD-Dilemma. Niemand drängt sich wirklich mit aller Macht nach vorn, niemand wird so gedrängt, dass ein Nein fast schon einem Vaterslandverrat gleich käme.
Allen dürfte klar sein: Wer jetzt im Schnelldurchgang die Nachfolge an der Parteispitze antreten würde, würde am Abend des 1. September genau da stehen, wo die ehemalige SPD-Vorsitzende Andrea Nahles am letzten Sonntag im Mai nach der Europawahl stand: vor einem weiteren Wahldesaster.
Vergleichsweise schnell verfielen die Sozialdemokraten auf einen ungewöhnlichen Weg. Den Sommer 2019 hindurch wird die Partei kommissarisch von einem Trio geführt: aus Marie Luise (Malu) Dreyer, der Ministerpräsidentin aus Rheinland-Pfalz, ihrer Amtskollegin aus Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, die sich eigentlich als Ministerpräsidentin nur noch um ihr Land kümmern wollte, muss sie doch dort in zwei Jahren ihre erste eigene Landtagswahl bestehen, und aus dem hessischen SPD-Chef Thorsten Schäfer-Gümbel. Seine Nominierung hat am meisten überrascht, da Schäfer-Gümbel vor nicht mal acht Wochen seinen Rückzug aus der aktiven Politik für den kommenden Herbst angekündigt hatte. Er hat bereits ab dem 1. Oktober einen neuen Job bei der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ).
Angst vor dem nächsten Desaster
Das Dreigestirn soll vermutlich bis nach den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen die SPD führen. Wobei klar zu sein scheint, dass Malu Dreyer die Hauptansprechpartnerin sein wird. Die 58-jährige Ministerpräsidentin aus Rheinland-Pfalz genießt in der SPD extrem hohes Ansehen. Auf dem Wahlparteitag im Dezember 2017 erhielt Dreyer als stellvertretende Vorsitzende das Traumergebnis von 97,5 Prozent. Auf selbigem Parteitag wurde übrigens damals Andrea Nahles mit überschaubaren 66 Prozent zur Vorsitzenden gewählt. Dreyer selbst ist in Rheinland-Pfalz seit 2002 in der Landesregierung. Zunächst als Sozial- und Arbeitsministerin unter Kurt Beck. 2013 übernahm sie dann als Ministerpräsidentin die Amtsgeschäfte. 2016 konnte sie ihr Amt gegen die CDU-Herausforderin Julia Klöckner verteidigen. Und das damals mit einem furiosen Wahlergebnis. Während die Bundespartei bereits bei weit unter 30 Prozent angekommen war, konnte Dreyer 2016 über 36 Prozent für die Pfälzer SPD holen. Nun soll sie mit Manuela Schwesig und Thorsten Schäfer-Gümbel die SPD also kommissarisch führen. Alle drei betonen, dass sie, jeder für sich, absolut gleichberechtigt für die Partei und die beiden anderen sprechen. Das kann heiter werden. Das Modell, „eine Partei – drei Sprecher" wird von Politikberatern eher als Schnapsidee abgetan.
In der Bundestagsfraktion geht es ebenfalls mit einer Interimslösung weiter. Hier allerdings nicht als Dreigestirn. Rolf Mützenich aus Köln soll die Fraktion kommissarisch bis zur regulären Neuwahl des Fraktionsvorsitzenden im September führen. Er allein. Der 60-Jährige ist dienstältester Fraktions-Vize und damit automatisch an der Reihe, fällt die Vorsitzende aus, der Vorgang in der Fraktion soweit politisch also normal. Was allerdings auffällt: Weder von Achim Post noch von Martin Schulz war in den Tagen nach dem Nahles-Abgang etwas zu hören. Beide wurden im Vorfeld immer wieder als mögliche Nachfolger für den Fraktionsvorsitz genannt. Offenbar wollen beide nicht zu früh ihren Hut erneut in den Ring werfen, solange niemand so richtig weiß, wohin die politische Reise der SPD vor allem in der Partei geht. Die Linie in der Fraktion scheint aber weiter klar zu sein. Ein Gutteil der 153 Fraktionsmitglieder der SPD wird nun bemüht sein, die Große Koalition am Laufen zu halten, zumindest noch bis zum September. Darin sind sich selbst die Groko-Gegner in der Bundestagsfraktion einig, denn die SPD kann derzeit alles gebrauchen, nur keine Neuwahlen. Darum lautet jetzt die Parole, Kurs halten und schauen, dass man zumindest noch die Grundrente ohne Bedarfsprüfung durchsetzen kann. Dazu kommt das Jahrhundertprojekt von Finanzminister Olaf Scholz, die Neuregelung der Grundsteuer.
Keiner reißt sich um den Vorsitz
In der Partei, also den Landesverbänden und den Flügeln der SPD, sieht man das offenbar nicht ganz so pragmatisch. Vor allem die Jusos um Kevin Kühnert und der linke Flügel DL21 wollen lieber heute als morgen raus aus der Regierung. Für diese Gruppierungen ist klar, die Große Koalition ist Gift für die älteste Partei Deutschlands. Hinzu kommt, auch das Trio um die kommissarische Parteivorsitzende Dreyer ist kein Freund der Großen Koalition. Dreyer hat im Winter 2017/18 lange mit sich gerungen, um dann doch auf Druck von Andrea Nahles der Regierungsbeteiligung im Bund zuzustimmen. Nun könnte Dreyer die Kehrtwende der SPD vorbereiten. Denn ohnehin wurde ja festgeschrieben, dass alle Ziele des Koalitionsvertrags der Groko im kommenden Spätsommer kritisch hinterfragt werden sollen (die sogenannte Revisionsklausel). Viel politische Rücksicht müssen dann die drei Strategen in der SPD nicht mehr nehmen. Lediglich die Thüringenwahl am 27. Oktober steht noch an. Die sozialdemokratischen Wahlaussichten dort sind eher bescheiden, Spitzenkandidat Wolfgang Tiefensee freut sich, wenn er auf ein zweistelliges Ergebnis vor dem Komma kommt. Doch bis dahin müsste die SPD dringend für sich klären, wo man überhaupt hin will.
Raus aus der ungeliebten Großen Koalition, schön und gut. Doch was sind dann die politischen Optionen? Ein endgültiger Abschied von der Agenda-Politik von Ex-Kanzler Schröder! Das würde heißen, dass der gesamte derzeitige Parteivorstand beinahe komplett ersetzt werden müsste. Denn beinahe alle, die im SPD-Vorstand und Präsidium derzeit noch zusammensitzen, haben die Agenda 2010 politisch mitgetragen. Auch Malu Dreyer, Manuela Schwesig und Thorsten Schäfer-Gümbel. Dann müsste die SPD konsequenterweise zum Beispiel auch gegen die Leiharbeit zu Felde ziehen, die ja von ihr unter Rot-Grün eingeführt wurde. Dann müsste aber auch die Reichensteuer gefordert werden. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Doch ob so ein abrupter Kursschwenk den Sozialdemokraten tatsächlich helfen könnte, darf bezweifelt werden. Denn würden die ehemaligen SPD-Wähler darauf so einen großen Wert legen, dann müsste ja eigentlich die Linkspartei deutlich zweistellige Ergebnisse einfahren. Das macht sie aber nicht, ganz im Gegenteil. Nicht die Linkspartei, sondern Bündnis90/Die Grünen haben die ehemaligen SPD-Wähler reihenweise abgeräumt. Der inhaltliche Zickzackkurs der Sozialdemokraten der vergangenen Jahre hatte immer eines zur Folge: Die Wahlergebnisse sanken kontinuierlich weiter ab. Ein Ende scheint weiterhin nicht absehbar, und die Partei und ihre Protagonisten wirken weiterhin wie aus einem fernen Land vor unserer Zeit.