Vom 21. bis 30. Juni erleben die European Games in Weißrusslands Hauptstadt Minsk ihre zweite Auflage. Der sportliche Wert ist weitgehend fragwürdig, und durch die erneute Vergabe an ein autokratisch regiertes Land nach der Premiere 2015 in Aserbaidschan fehlen der Veranstaltung zusätzlich Legitimation und Akzeptanz.
Die Idee schien im Ansatz gut: Durch die European Games oder Europaspiele sollte nach dem Vorbild der seit Jahrzehnten populären Asienspiele oder auch der Commonwealth-Spiele für die Länder des ehemaligen britischen Empire auch für Europa die Tradition eines großen und spektakulären Multisport-Events begründet werden. Doch schon vor der zweiten Auflage ab 21. Juni in der weißrussischen Hauptstadt Minsk scheint das Projekt auch mittelfristig kaum Chancen zu haben, sich als ein Höhepunkt im internationalen Sport etablieren zu können: Der sportliche Wert der Veranstaltung ist überwiegend fragwürdig und konnte quasi nur durch Zwangsmaßnahmen des Europäischen Olympischen Komitees (EOC) überhaupt erhalten werden. Zudem – und aus Sicht zahlreicher Kritiker vor allem – erscheinen die Spiele aufgrund der Gastgeber-Rolle Weißrusslands, das nicht selten als „Europas letzte Diktatur“ bezeichnet wird, hauptsächlich als ideales Propaganda-Vehikel für autokratische Staaten. Bereits bei der Premiere der Veranstaltung 2015 in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku lieferten das totalitäre Regime von Staatspräsident Ilham Alijew und sein Clan mehr Schlagzeilen als die sportlichen Wettkämpfe.
„Europas letzte Diktatur“
In Minsk dürfte sich die Situation ähnlich entwickeln. Mehrere Menschenrechts-Organisationen zeichnen ein düsteres Lagebild von Weißrussland. Human Rights Watch beklagte erst noch Ende vergangenen Jahres massive Einschränkungen der Demonstrations- und Pressefreiheit, fehlende Arbeiterrechte sowie die Diskriminierung etwa von Obdachlosen, Alkoholikern oder auch Prostituierten. Weißrussland verhängt und vollzieht außerdem als letzter Staat in Europa noch die Todesstrafe mit öffentlichen Hinrichtungen. Mit eiserner Hand unterdrückt der seit 1994 herrschende Staatspräsident Alexander Lukaschenko jegliche Oppositionsbestrebungen. Wiederholt wurden öffentliche Proteste gegen seine Person und Politik vom weißrussischen Sicherheitsapparat skrupellos niedergeknüppelt und kritische Journalisten aus fadenscheinigen Gründen verhaftet. Auch sportlich genießt Weißrussland einen alles andere als guten Ruf und gilt vielmehr als Dopingnation. Wegen systematischer Manipulationen wurden die Gewichtheber und Kanuten des Landes zwischenzeitlich schon einmal für ein Jahr international gesperrt.
Doch für die Rettung der Europaspiele schien dem EOC auch ein buchstäblicher Pakt mit dem Teufel kein Hindernis zu sein. Nachdem die Niederlande als ursprünglich geplanter Gastgeber für 2019 wegen der finanziellen Risiken abgesprungen und Russland als Ersatz wegen der Enthüllungen seines Staatsdoping-Systems nicht mehr in Betracht gekommen waren, sprang vor drei Jahren Lukaschenko in die Bresche. Ausgerechnet jener Lukaschenko, dem Großbritannien 2012 wegen Wahlfälschungen und seinem brutalen Umgang mit Oppositionellen die Einreise zu den Olympischen Spielen in London noch verweigert hatte.
Für das EOC, dem europäischen Ableger des auch nicht gerade als Verfechter von Grundrechten und Demokratie geltenden Internationalen Olympischen Komitees (IOC), kein Problem – es hatte ja auch schon mit Aserbaidschan in einer ähnlichen Konstellation gut geklappt. „Wir können nur dahin gehen, wohin wir eingeladen werden. Das EOC ist keine politische Organisation, und wir sind nicht sicher, ob die Bezeichnung ‚autoritäres Regime‘ adäquat ist. In beiden Ländern gibt es freie Wahlen und geheime Stimmzettel als Basiselemente der Demokratie“, ließ das EOC erst Ende März noch einmal verlauten. Dabei hatte das EOC selbst schon bei der Entscheidung für Minsk Bedarf für den in den vergangenen Jahren bei der Vergabe von sportlichen Großveranstaltungen unglücklicherweise zum Standard gewordenen Hinweis gesehen, dass die Europaspiele auch eine Chance zur Verbesserung der politischen Situation in Weißrussland seien.
Nur 4.000 Teilnehmer in 15 Sportarten
Für Lukaschenkos früheren Gegenspieler Jaroslaw Romantschuk ist diese Haltung nicht mehr als ein billiges Alibi. „Ich sehe keinen Zusammenhang zwischen internationalen Sportwettbewerben und einer Demokratisierung. Die Machthaber nutzen solche Ereignisse vielmehr, um sagen zu können, sie seien gar keine Diktatoren und nicht autoritär. Diese Veranstaltungen werden dazu genutzt, um zu zeigen, dass man entgegen der Kritik im eigenen Land international akzeptiert wird“, sagte der weißrussische Präsidentschaftskandidat von 2010. Außerhalb der gemeinsamen Blase von EOC und Lukaschenko jedoch herrscht eine andere Sichtweise vor. Bei der Vermarktung der Europaspiele tat sich das EOC ausgesprochen schwer. Nicht einmal ein „echter“ Hauptsponsor wie für Olympische Spiele oder Fußball-Weltmeisterschaften war für die Macher aufzutreiben. Nunmehr fungieren hauptsächlich einheimische Staatskonzerne und Firmen als Partner der Organisatoren. Auch der Verkauf der TV-Rechte, durch den das vermeintliche Spektakel in bis zu 160 Länder übertragen werden sollte, verlief nach den schlechten Quoten von Baku 2015 sehr schleppend.
Minsk hat allerdings aufgrund des geringen Interesses der internationalen Fachverbände nach einer Schrumpfkur auch nur wenige Attraktionen zu bieten. Nach rund 6.000 Aktiven in 20 Sportarten bei der Premiere in Aserbaidschan werden in Minsk nur noch gut 4.000 Teilnehmer in 15 Sportarten erwartet. Die olympischen Kernsportarten Leichtathletik und Schwimmen zeigen dem EOC weitgehend die kalte Schulter: In der Leichtathletik ist der neuartige Mehrkampf Dynamic New Athletics für gemischte Mannschaften mit den klassischen Disziplinen Hochsprung, Speerwurf und Sprint sowie – Achtung – Standweitsprung, Wassersprung und einem Medizinball-Lauf das Herzstück der Wettkämpfe, und die Schwimmer, schon in Baku nur mit Nachwuchswettbewerben im Programm, verzichteten gänzlich auf eine Teilnahme.
Kasan Favorit für Ausrichtung 2023
Immerhin drückte das EOC in den Verhandlungen mit den Fachverbänden zur Attraktivitätssteigerung der Veranstaltung wenigstens noch in vier Sportarten direkte Qualifikationen für die Olympischen Spiele 2020 durch. Außer im Bogenschießen, Karate und Sportschießen werden in Minsk auch im Tischtennis die ersten Tickets nach Tokio vergeben, sodass die Auftritte von Timo Boll und Co. zu den Highlights zählen dürften. In mehreren anderen Sportarten fließen die Ergebnisse der Europaspiele in eine Gesamtwertung für die Olympia-Ausscheidung ein.
Hinter den Kulissen haben jedoch schon weitere Absetzbewegungen vom „Schmuddelkind European Games“ an Dynamik gewonnen. Tischtennis-Weltverbandspräsident Thomas Weikert kündigte im Vorlauf zu Minsk bereits unverhohlen an, seine Europa-Organisation ETTU für die Zukunft nach Minsk zu Bemühungen um eine Aufnahme ins hochkarätige Programm der European Championships und zum Abschied von den European Games bewegen zu wollen. Für die Einbindung in das Multi-Event mit gleichzeitigen Europameisterschaften in größeren Sportarten – eben auch mit Leichtathleten und Schwimmern – an einem Ort, das 2018 eine finanziell wie medial höchst erfolgreiche Premiere feierte, signalisierte der ehemalige Chef des Deutschen Tischtennis-Bundes (DTTB) denn auch schon eindeutige Bereitschaft zu weitreichenden Zugeständnissen. Um bei den European Championships einerseits finanziell anders als bei den Europaspielen von den eigenen Wettbewerben zu profitieren und gleichzeitig für Sponsoren wichtige TV-Zeiten zu generieren, würde Weikert traditionelle Termine aufgeben und im Extremfall zur besseren Planbarkeit von Tischtennis-Übertragungen sogar auch bestimmte Regeln des Spiels ändern wollen.
Weikerts Positionen sind auch Ausdruck von Sorgen um das Image seiner Sportart durch die Zugehörigkeit zu den schlecht beleumundeten Europaspielen. Das Ansehen der Veranstaltung dürfte kurzfristig auch kaum besser werden: Für die Ausrichtung 2023 gibt es einen großen Favoriten – das russische Kasan.