Ohne die Weimarer Republik hätte es das Grundgesetz wohl nie gegeben, denn seine Schöpfer hatten aus den Fehlern dieser Zeit gelernt. Als Übergangslösung gedacht, ist es heute die Verfassung aller Deutschen.
Ein Weg von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt." Diese Lebensweisheit gilt auch für die Erfolgsgeschichte der westdeutschen Demokratie. Deren Wurzeln liegen im Jahr drei nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Mit der Anti-Hitler-Koalition war auch der Traum von der Wiederherstellung Gesamtdeutschlands geplatzt. Die Zeichen standen nun auf Bildung eines ursprünglich gar nicht erstrebten westdeutschen Staates.
Im Herbst des Schicksalsjahres 1948 – die Währungsreform vom 20. Juni mit der Geburt der „Deutschen Mark" war vollzogen und die Berlin-Blockade in vollem Gang – trat am 1. September in der rheinischen Universitätsstadt Bonn ein neu geschaffenes politisches Gremium zusammen, der „Parlamentarische Rat". Es war der Auftakt zum zweiten, diesmal erfolgreichen Anlauf im 20. Jahrhundert, auf deutschem Boden die freiheitliche Demokratie zu etablieren.
Vorausgegangen war am 1. Juli 1948 die Aufforderung der drei westlichen Siegermächte USA, England und Frankreich an die Ministerpräsidenten der Westzonen des geteilten Deutschlands, bis zum 1. September 1948 eine Versammlung aus Mitgliedern der westdeutschen Landtage einzuberufen. Deren Aufgabe sollte die Ausarbeitung einer demokratischen, föderalistischen und durch die Garantie der individuellen Rechte und Freiheiten zugleich liberalen Verfassung sein.
Bei ihren Beratungen legten die Regierungschefs der westdeutschen Länder größten Wert auf zwei Postulate: Die neu zu schaffende Ordnung dürfe nur eine Notlösung darstellen und die deutsche Spaltung auf keinen Fall vertiefen. Darum einigte man sich mit den Westmächten auf eine Sprachregelung, die den Begriff „Verfassung" für den westdeutschen Teilstaat vermied: Ein „Parlamentarischer Rat" solle ein „Grundgesetz", Übergangslösung bis zu einer künftigen gesamtdeutschen Verfassung, ausarbeiten.
Grundrechte sind von jedem einklagbar
Am 1. September 1948 war es so weit. Der Parlamentarische Rat konstituierte sich in der künftigen Bundeshauptstadt Bonn. Er bestand aus 65 Mitgliedern, darunter vier Frauen. Das Durchschnittsalter der Abgeordneten betrug etwa 55 Jahre. Je 27 gehörten der CDU/CSU und der SPD an, fünf der FDP und je zwei der Deutschen Partei (DP), dem Zentrum und der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Die fünf Berliner Abgeordneten (SPD 3, CDU 1, FDP 1) hatten nur beratende Stimme.
Schauplatz der Beratungen war die Pädagogische Akademie des Rheinstädtchens, der heutige Altbau des Bundeshauses. Alles war höchst spartanisch. Mancher Volksvertreter hatte sich einen guten Anzug ausleihen müssen. Für jede Fraktion stand ein Klassenzimmer zur Verfügung. Büros für die einzelnen Abgeordneten gab es nicht, ebenso wenig einen wissenschaftlichen Apparat.
Vor Beginn der Beratungen fand vormittags um 11 Uhr im Zoologischen Museum Alexander Koenig ein feierlicher Festakt statt. Der Staatsrechtler Carlo Schmid berichtete: „Wohl kaum hat je ein Staatsakt, der eine neue Phase der Geschichte eines großen Volkes einleiten sollte, in so skurriler Umgebung stattgefunden." Man saß im Lichthof des Museums, rings umgeben von unheildrohend ausgestopften Tieren, die man zur Seite gerückt und mit Packpapier verhängt hatte: eine Giraffe, einen russischen Bären, drei sibirische Wölfe.
Nach Beethovens Leonoren-Ouvertüre hielt Karl Arnold von der CDU, Ministerpräsident des Gastgeberlandes, die Festrede. Er bedauerte, dass die Deutschen nur für einen Teil ihres Vaterlandes eine politische Ordnung schaffen könnten, fühlte sich verbunden mit der Bevölkerung des Saarlandes, mit Weimar und Breslau, und hoffte auf den Abschluss eines Friedensvertrages, damit der Kriegsgeist aus der Welt verschwinde und die endgültige Aussöhnung der Völker erfolgen könne.
Nachmittags trat das Plenum erstmals zusammen. Wie in den interfraktionellen Vorbesprechungen vereinbart, wurde der 72-jährige Konrad Adenauer, Vorsitzender der CDU der britischen Zone, zum Präsidenten gewählt. Der Vorsitz im wichtigen Hauptausschuss ging an den 51-jährigen Rechtsprofessor Carlo Schmid von der SPD. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates standen noch ganz unter dem Eindruck der NS-Diktatur. Viele hatten emigrieren müssen, andere die Gewaltherrschaft im eigenen Land erduldet.
In einem war man sich einig: Die Fehler und Schwächen der Weimarer Verfassung mussten vermieden werden. Noch einmal sollte eine rechtsstaatliche Demokratie auf deutschem Boden nicht so leicht überwältigt werden können. Deshalb sahen die Schöpfer des Grundgesetzes im Grundrechtskatalog ein Herzstück der neuen Ordnung, kein Anhängsel. Die Grundrechte sollten in Zukunft als unmittelbar geltendes Recht von jedermann einklagbar sein. Darum setzte man sie an den Anfang des Grundgesetzes (Artikel 1 bis 19). Die Erfahrungen der Weimarer Republik von 1919 bis 1933 schlugen sich vielfach im Grundgesetz nieder.
Erstmals konstruktives Misstrauensvotum
So wurden die in Weimar vorhandenen direktdemokratischen Elemente zugunsten des parlamentarischen Gedankens zurückgedrängt. Das Staatsoberhaupt sollte nicht mehr direkt durch das Volk, sondern durch eine Bundesversammlung gewählt werden (Artikel 54). Wäre in der Weimarer Republik der Reichspräsident durch ein Wahlkollegium nach Art der Bundesversammlung gewählt worden, so gab Carlo Schmid zu bedenken, wäre es mit Sicherheit nicht zur Wahl des erzkonservativen Monarchisten Paul von Hindenburg gekommen: „Und damit wäre uns und der Welt vielleicht ein Reichskanzler Adolf Hitler erspart geblieben."
Verglichen mit Weimar, wurden die Kompetenzen des Staatsoberhauptes geschmälert, die des Regierungschefs hingegen gestärkt. Eine Neuerung war das „konstruktive Misstrauensvotum" (Artikel 67). Es verhindert, dass der Kanzler – und damit die Regierung – von einer in sich uneinigen Mehrheit gestürzt wird, ohne dass diese selbst imstande ist, einen Nachfolger zu bestimmen. Die Regierung bleibt solange im Amt, bis nicht ein neuer Kanzler gewählt wurde.
Um auszuschließen, dass verfassungsfeindliche Parteien – wie NSDAP und KPD in Weimar – erneut die parlamentarischen Freiheiten zur Bekämpfung der demokratischen Ordnung missbrauchen, verpflichtet das Grundgesetz die Parteien auf demokratische Grundsätze (Artikel 21). Dies hat zusammen mit der Fünfprozentklausel zur Stabilisierung des politischen Systems der Bundesrepublik beigetragen. Das Grundgesetz sollte eine wehrhafte Demokratie schaffen. Das begründete Carlo Schmid am 8. September 1948: Wenn man die Demokratie als für die Würde des Menschen unverzichtbar betrachte, dann müsse man auch den „Mut zur Intoleranz denen gegenüber haben, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie selbst umzubringen."
Daher war es nur konsequent, dass man dem Bundesverfassungsgericht das Recht verlieh, verfassungsfeindliche Parteien zu verbieten und die Verwirkung von Grundrechten dann auszusprechen, wenn sie zum Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung missbraucht werden. Die Verfassungsgeber wollten auch verhindern, dass Gegner der demokratischen Ordnung in die Beamtenschaft eindringen. Deshalb fordern Grundgesetz (Artikel 33) und Beamtenrecht von den Staatsdienern das aktive Eintreten für die verfassungsmäßige Ordnung.
Die Beratungen des Parlamentarischen Rates fanden in ständigem Dialog mit den drei westlichen Militär-Gouverneuren statt. Diese hatten den Auftrag zur Ausarbeitung einer Verfassung erteilt. Sie hatten deutliche inhaltliche Vorgaben gemacht. Und schließlich hatten sie sich die Genehmigung des Verfassungswerkes vorbehalten. Die deutschen Verfassungsgeber ihrerseits legten Wert auf die Betonung ihrer gesetzgeberischen Unabhängigkeit, hielten aber zugleich ständigen Kontakt zu den westlichen Militärregierungen. Das hinderte diese jedoch nicht daran, die Telefone der maßgebenden Parlamentarier abzuhören.
Das Grundgesetz wurde seit 1949 vielfach modifiziert und ergänzt
Vier Tage nach dem Abbruch der Blockierung Berlins durch die Sowjets, am 8. Mai 1949, verabschiedete der Parlamentarische Rat mit 53 gegen zwölf Stimmen das „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland". In der Schlussabstimmung sprachen sich CDU, SPD, FDP und zwei Abgeordnete der CSU für die Annahme aus. Dagegen stimmten diejenigen Abgeordneten, denen der föderalistische Gedanke zu kurz gekommen schien: sechs der CSU, die beiden Vertreter der DP und des Zentrums und – mit anderer Begründung – die beiden Kommunisten.
Nach der Genehmigung durch die Militär-Gouverneure am 12. Mai 1949 und der Zustimmung der Länderparlamente – nur der Bayerische Landtag lehnte ab, weil er das Verfassungswerk für zu zentralistisch hielt, erkannte aber dessen Rechtsgültigkeit auch für Bayern an – wurde das Grundgesetz am 23. Mai 1949 in einem feierlichen Staatsakt verkündet. Nun mussten sich die neuen Verfassungsorgane konstituieren. Die ersten Bundestagswahlen am 14. August 1949 brachten einen Sieg des von CDU/CSU angeführten bürgerlichen Lagers.
Infolgedessen fiel das Kanzleramt am 15. September 1949 an den CDU-Spitzenmann Konrad Adenauer. Dieser hatte es verstanden, schon als Präsident des Parlamentarischen Rates in die Rolle eines „Sprechers der werdenden Bundesrepublik" (Theodor Heuss) zu schlüpfen. Adenauer blieb 14 Jahre im Amt und erwarb sich dabei zusammen mit Professor Theodor Heuss, dem ersten von den Liberalen kommenden Bundespräsidenten, weltweit hohes Ansehen. Alt-Bundespräsident Gustav Heinemann, ein Sozialdemokrat, hat das Inkrafttreten des Grundgesetzes eine der „seltenen Sternstunden" der deutschen Geschichte genannt. Seither haben die Deutschen mit Mauerfall (1989) und Wiedervereinigung (1990) weitere Sternstunden erlebt.
Das seit 1949 vielfach modifizierte und ergänzte Grundgesetz gilt heute auch in der ehemaligen DDR. Professor Thomas von Danwitz folgert aus der weltweiten Anerkennung des Grundgesetzes als Referenzmodell, dass es „ungleich mehr erreicht" habe als manch andere Verfassung. Die Verteidigung seiner zentralen Werte – Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – sei jeden Einsatz wert.