Sich in kurzer Zeit möglichst viele Namen einzuprägen oder Hunderte von Zahlen korrekt wiederzugeben: Für Johannes Mallow ist das kein Problem. Der 37-Jährige ist amtierender Gedächtnisweltmeister. Sein Ehrgeiz hat auch mit seiner körperlichen Beeinträchtigung zu tun.
Selbst ein Gedächtnisweltmeister ist vor gelegentlichen Aussetzern nicht gefeit. Auch bei Johannes Mallow kommt es deshalb häufiger vor, dass er seinen Schlüssel verlegt und sich nicht daran erinnert, wo er ihn deponiert hat. „Es ist ganz sicher nicht so, dass ich mir im Alltag automatisch alles merken kann", sagt er. „Ich habe auch kein Supergedächtnis." Was er aber wie kaum ein anderer besitzt, ist die einzigartige Fähigkeit, sein Gedächtnis auszutricksen. Mallow weiß genau, wie er sein Gehirn dazu bringt, sich etwas zu merken, wenn es darauf ankommt.
Der 37-Jährige zählt seit vielen Jahren zu den besten Gedächtnissportlern der Welt. Schon zehnmal nahm er an den Weltmeisterschaften im Denksport teil, die er zweimal – 2012 in London und zuletzt 2018 in Wien – auch gewinnen konnte; hinzu kommen zahlreiche deutsche Meistertitel.
Ausgerechnet Verona Pooth war es, die beim Magdeburger das Interesse für den Gedächtnissport weckte. Die Moderatorin war 2003 in einer Fernsehsendung zu Gast und bewies dort nach nur kurzer Anleitung durch den Gedächtnistrainer Dr. Gunther Karsten, dass sie in der Lage war, sich innerhalb kürzester Zeit eine 20-stellige Zahl fehlerfrei einzuprägen. „Das hat mich fasziniert, und ich habe mir gesagt: Wenn sie das schafft, dann kann ich das auch", sagt Mallow. Er fing an zu recherchieren und tauchte nach und nach immer tiefer in das Thema ein. Die Techniken, auf die es dabei ankommt, brachte er sich selbst bei. Schon zwei Jahre später schaffte er es erstmals zur WM.
„Der Erfolg ist fast ausschließlich das Ergebnis von hartem Training", sagt er. „Es sind 90 Prozent Übung und zehn Prozent Talent." Zum Teil erklärt sich sein Ehrgeiz auch mit seiner körperlichen Beeinträchtigung. Johannes Mallow lebt seit seinem 14. Lebensjahr mit der Muskelerkrankung FSHD, die seinen Körper zusehends schwächt. Seine Muskeln schwinden, seit 2011 sitzt er deshalb im Rollstuhl. Umso wichtiger war es ihm, seinen Geist zu trainieren. „Das hat mich fasziniert und stellte plötzlich eine Möglichkeit dar, mich mit anderen sportlich zu messen. In dieser schwierigen Zeit hat mir der Gedächtnissport unheimlich viel Kraft zurückgegeben", sagt er.
„Das hat mir viel Kraft zurückgegeben"
Die Sportart ist vom Ablauf her vergleichbar mit einem Zehnkampf. Auch beim Gedächtnissport sind an insgesamt drei Tagen zehn verschiedene Disziplinen zu absolvieren. Für jede Disziplin gibt es Punkte, die addiert werden, am Ende entscheidet die Gesamtpunktzahl über das Klassement. Genau wie beim Zehnkampf kommt es also nicht darauf an, nur in einer oder zwei Disziplinen besonders stark zu sein, sondern sich in allen Bereichen möglichst breit aufzustellen. Und ähnlich wie die Königsdisziplin der Leichtathletik ist auch der Gedächtnissport körperlich äußerst anstrengend, auch wenn man das zunächst gar nicht vermuten würde. „Das Gehirn frisst unheimlich viel Energie", erklärt Mallow. „Nach drei Tagen Wettkampf bin ich am Ende einfach nur noch platt."
Die Disziplinen fallen dabei ganz unterschiedlich aus. So haben die Teilnehmer etwa 15 Minuten Zeit, um sich von einem Zettel so viele Namen und Gesichter wie möglich zu merken. Nach einer Viertelstunde werden die Zettel eingesammelt, und die Teilnehmer bekommen Wiedergabeblätter, auf denen nur noch die Gesichter abgebildet sind, allerdings in anderer Reihenfolge. Innerhalb einer halben Stunde müssen sie den Gesichtern nun so viele Namen wie möglich zuordnen. Oder sie müssen sich innerhalb einer Stunde möglichst viele Spielkartendecks einprägen. Der Weltrekord liegt bei unglaublichen 33 Decks, die fehlerfrei wiedergegeben wurden, also insgesamt 1.716 Spielkarten!
Eine weitere Prüfung ist die Wiedergabe von Binärcodes, wie man sie aus der Informatik kennt – dabei werden die Informationen durch Sequenzen von lediglich zwei unterschiedlichen Symbolen (0 und 1) dargestellt, was es aber umso schwieriger macht, sie sich einzuprägen. In dieser Disziplin hielt Mallow früher sogar die Weltbestmarke, indem er in fünf Minuten 568 Ziffern korrekt rezitieren konnte. Bei einer anderen Aufgabe geht es darum, sich historische Daten zu merken – fiktive wohlgemerkt, die man deshalb auch nicht vorher im Lexikon nachschlagen kann. Auch dort war Mallows Bestmarke lange Zeit sogar Weltrekord: 132 Ereignisse innerhalb von
fünf Minuten. Mittlerweile hat ihm ein Inder auch diesen Rekord abgenommen. Deutscher Rekordhalter ist der Mann aus Sachsen-Anhalt aber nach wie vor.
Aber wie schafft man es, sich all diese Dinge zu merken? Fast alle Gedächtnissportler greifen auf die Loci-Methode zurück, benannt nach dem lateinischen Wort für Orte oder Plätze. Seit über 2.000 Jahren wird sie verwendet, schon die alten Griechen wussten davon. Es handelt sich dabei um eine sogenannte mnemotechnische Lernmethode. Dabei werden Lerninhalte in eine fiktive Struktur eingeordnet, zum Beispiel als Punkte entlang eines Weges oder Dinge in einem Raum. Anschließend kann man auf diese geistig vorbereiteten Plätze das zu Merkende in Form lebendiger Bilder ablegen. Diese lassen sich besser ins Gedächtnis einprägen als bloße Informationen wie Text oder Zahlen.
Sein Hobby hat er zum Beruf gemacht
Johannes Mallow erklärt, wie es geht: „Man könnte sich beispielsweise den Weg durch seine Wohnung einprägen. Erst kommt die Eingangstür, daneben womöglich ein kleines Schränkchen und die Garderobe. Im nächsten Raum dann vielleicht das Sofa, eine Zimmerpflanze, eine Lampe und so weiter. All diese Punkte prägt man sich ein. Ich persönlich habe über 2.000 solcher Orte im Kopf – das ist mein Werkzeug, mit dem ich als Gedächtnissportler immer wieder hantiere. Wenn ich mir dann zum Beispiel die Wörter Baum, Hausboot und Pfanne merken soll, dann gehe ich dafür in Gedanken wieder durch meine Wohnung. Als erstes kommt die Tür, also stelle ich mir vor, dass aus der Tür ein Baum herauswächst oder dass die Tür aus einem Baum geschnitzt wurde. Danach fährt das Hausboot auf dem Schränkchen umher, und die Pfannen hängen an der Garderobe. Man merkt sich immer nur Bilder auf Wegen. Das ist die Technik, um sich auch viele Wörter zu merken." Mit Intelligenz habe das wenig zu tun, sagt er. „Viel wichtiger ist die Kreativität, um sich solche Geschichten überhaupt auszudenken."
Um sich Spielkarten einzuprägen, muss Johannes Mallow indes noch einen Schritt weitergehen. Zunächst muss er sämtliche Karten eines Decks in Bilder übersetzen – aus der Karo-Dame wird eine Seiltänzerin, aus dem Pik-Ass ein Baum und so weiter. Erst dann platziert er diese Bilder wieder entlang seines Weges und übersetzt sie bei der Wiedergabe zurück in die ursprünglichen Kartenwerte.
Ähnlich läuft es mit den Binärcodes: Auch dort unterteilt Mallow den Code zunächst in jeweils neunstellige Zahlenkombinationen, die er anschließend in ein konkretes Bild übersetzt. Bei einer neunstelligen Zahlenfolge gibt es 512 verschiedene Möglichkeiten, und jede von ihnen hat er vorab mit einem bestimmten Bild belegt. „Die Kombination 110010110 könnte zum Beispiel ein Fahrradständer sein, den ich mir dann wieder an meinem Weg durch die Wohnung merke", erklärt er.
Anfangs war der Gedächtnissport nur ein Hobby gewesen. Der gebürtige Rathenower hatte in Magdeburg Medizintechnik studiert und dort auch seinen Doktor gemacht. Doch längst hat er sein Hobby zum Beruf gemacht. Seit 2015 ist Johannes Mallow als selbstständiger Gedächtnistrainer tätig und bringt anderen das bei, was ihn zum Weltmeister gemacht hat. Die Seminare und Workshops sind dabei stets gut nachgefragt. Mallow bietet auch Einzelcoachings an, auch online für Kunden in den USA, Kanada oder Indien. Nebenbei tritt er auch immer wieder im Fernsehen auf. Mit der Prominenz einiger seiner Gegner kann er indes nicht mithalten. Vor allem in der Mongolei, derzeit wohl die führende Nation im Gedächtnissport, sind die besten Athleten so bekannt wie hierzulande nur ein Politiker oder Schauspieler.