Lange war das versteckte Tal bei Düsseldorf eine kaum bekannte Schlucht mit Höhlen und Wasserfällen. Heute wandern Touristen durch Deutschlands ältestes Naturschutzgebiet und besuchen ein besonderes Museum. Denn wo einst der Neandertaler lebte, reist man heute 40.000 Jahre zurück in die Steinzeit.
Von diesem sommerlichen Tag in die Steinzeit zu reisen, also vom jetzt und hier des Jahres 2019 kaum vorstellbare 40.000 Jahre zurück bis in die Urgeschichte: Das dauert im Neandertal gerade einmal eine gute Stunde. Und statt einer Hightech-Zeitmaschine, die ja selbst der Elektrofachhändler des Vertrauens leider nicht beschaffen kann, braucht man dafür nur gute Schuhe.
Es ist eine ausgesprochen schöne Wanderung. Im Neandertal, das man im 19. Jahrhundert noch mit „th" schrieb und das seinen Namen dem Kirchenmusiker Joachim Neander verdankt, spaziert man unter rauschenden Buchen und Eichen entlang der Düssel. Der munter plätschernde Bach hat sich einen Katzensprung von Düsseldorf entfernt zwischen den Orten Erkrath und Mettmann tief in den Kalkstein gefressen und so ein wildromantisches Naturdenkmal geschaffen. Früher gab es zu Fuß hier kein Durchkommen: Die Schlucht war viel zu eng.
Auch heute noch geht es deswegen gelegentlich die Hänge hoch und hinunter. Immer wieder sieht man auf den Lichtungen im Wald Wisente, Wildpferde und Auerochsen, die sich auch von den kläffenden Hunden der Spaziergänger nicht vom gemütlichen Grasen abhalten lassen. Gebe es auch noch Mammuts und Wollnashörner, wäre die Tierwelt im eiszeitlichen Wildgehege komplett.
Hinter einem aus dem Bach ragenden Felsen, dem Rabenstein, ist man dann am Ziel der Zeitreise. Heute sieht man hier nur eine kleine Wiese, doch einst wurde in der Feldhofer Grotte Kalkstein abgebaut. Hier machten im August 1856 die Arbeiter eines Steinbruchs eine sensationelle Entdeckung. Sie fanden das 40.000 Jahre alte Skelett eines Mannes, den wir heute als Neandertaler kennen.
„Sie waren keine Steinzeit-Rambos"
Was war das für ein Mann? Am Ufer der Düssel steht eine Betonskulptur, die in den 30er-Jahren errichtet wurde. Sie zeigt einen grimmig blickenden Wilden im Lendenschurz und mit mächtiger Keule. War unser entfernter Verwandter tatsächlich ein derart primitiver, kulturloser Grobian? Ein paar Schritte weiter, im modernen „Neanderthal Museum", wird diese Frage beantwortet. Eine gut gemachte Ausstellung erzählt, wie das berühmte Skelett einst gefunden wurde, und präsentiert nebenbei die gesamte Entwicklungsgeschichte der Menschheit.
Im Foyer steht die bekannteste Attraktion, um die sich Schulklassen drängeln: Es ist die lebensechte Rekonstruktion jenes Neandertalers, der nach seinem Tod von seinem Clan in der Höhle bestattet und vor 160 Jahren durch Zufall gefunden wurde. Doch die Teenagermädels, die plappernd durchs Museum ziehen, packen ihre Handys für ein paar Selfies erst zwei Stockwerke höher aus.
Ein täuschend echt nachgebildeter Steinzeitmann lehnt sich über die Brüstung. Die Unterschiede in der Kopfform und im Körperbau, die den Neandertaler vom modernen Menschen abgrenzen, erkennt man erst auf den zweiten Blick. Statt wie einst üblich Kleidung aus Fellen zu tragen, präsentiert er sich hier nämlich in Hemd und Jackett. Hätte die Figur kein Messer aus Stein in der Hand sondern ein Mobiltelefon, so könnte man sie auch für einen Manager halten.
Das passt viel besser zu dem Bild, das Museumsführerin Iris Schimkat zeichnet. „Neandertaler waren keine Steinzeit-Rambos, sondern intelligente Menschen. Sie konnten nicht nur mit Gesten, Mimik und einfachen Lauten kommunizieren, sondern ähnlich sprechen wie wir. Sie machten Feuer, stellten Werkzeuge her – und hatten vermutlich auch eine Vorstellung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, weil sie ihre Jagden nach den Gewohnheiten der Tiere ausrichteten."
Entwickelt hat sich der Neandertaler vor etwa 120.000 Jahren aus dem Homo erectus, der ersten Menschenart, die Afrika verlassen hatte. Wer mehr über die Unterschiede der einzelnen Arten der Gattung Mensch wissen will, kann bei Florian Gumboldt vorbeischauen, einem Mitarbeiter der Steinzeitwerkstatt des Museums. Mit Schülern des Vinzenz-Palotti-Kollegs aus Rheinbach untersucht er gerade Schädelabgüsse auf ihre Merkmale. Zwölftklässlerin Anna trägt deswegen weiße Gazehandschuhe und hält vorsichtig den Kopf eines Neandertalers in ihren Händen. „Oberhalb der Augen hat er eine breite Wulst", sagt sie. Stephi, ihrer Mitschülerin, fallen neben dem spitzen Gesicht auch die kräftigen Kiefer auf. „Zähne waren für die Neandertaler wie eine dritte Hand: Sie haben sie wohl als Schraubstock und Zange benutzt – deswegen sind die Zähne oft stark abgenutzt."
Selbst wenn es natürlich keine Originale sind: „Das Hantieren mit Totenköpfen ist nicht jedermanns Sache", grinst Florian Gumboldt. Die meisten Workshops richten sich ohnehin an Kinder, die hier ihren Geburtstag feiern oder für einen Ausflug herkommen. Die ganz kleinen Besucher aus der Kindertagesstätte Abenteuerland basteln also mit Ton, Fett und einem Docht ein Steinzeitlicht, das zu Hause das Fensterbrett schmücken soll. Die älteren Teilnehmer, die schon mit Werkzeugen umgehen können, nehmen Drillbohrer und Schleifstein zur Hand. Aus Holz, Muscheln und Steinen entstehen Amulette – Schmuck wurde schließlich auch schon in der Urgeschichte getragen.
Den Urmenschen in sich entdecken
Wer sich als Erwachsener die bange Frage stellt, ob er in der Steinzeit länger als ein paar Tage überlebt hätte, kann für ein paar Stunden den Urmenschen in sich entdecken. Erst gilt es, aus Feuerstein ein Messer zu fertigen – schließlich sind die Zähne nicht scharf genug, um dem Wild das Fell über die Ohren zu ziehen. Dann geht es mit der Speerschleuder auf die Jagd. Damit keiner der Teilnehmer in die Verlegenheit kommt, mit einem Wisentschenkel auf der Schulter die Heimreise antreten zu müssen, sind die Tiere in diesem Fall nur Attrappen.
Echte Urviecher würden natürlich sofort davonrennen, doch unsere Ziele stehen brav ganz still. Es hilft nichts: Mit jedem Fehlwurf reift die Erkenntnis, dass man seine Rolle als Neandertaler ziemlich schlecht ausfüllt. Das liegt nicht nur an der fehlenden Praxis, heißt es aufmunternd vom Trainer: Es gebe Indizien, dass unsere Verwandten besser hören, sehen und riechen konnten als wir heute.
Doch wenn sie einerseits erfolgreiche Jäger waren und andererseits intelligent: Warum sind die Neandertaler dann eines Tages trotzdem ausgestorben? Bis heute haben Archäologen keine verbindliche Antwort auf diese Frage. „Fest steht allerdings, dass sich Homo neanderthalensis und der neu aus Afrika nach Europa eingewanderte Homo sapiens bisweilen vermischt haben", erzählt Museumsführerin Iris Schimkat. Per Genanalyse wurde vor einiger Zeit belegt, dass bis zu vier Prozent unseres heutigen Erbgutes vom Neandertaler stammen. „Wir alle tragen also ein Stück des Steinzeitmenschen in uns."
Passend dazu gibt es im „Neanderthal Museum" ein nettes Souvenir. Wer sich in einem Fotoautomaten ablichten lässt, bekommt anschließend ein „gemorphtes" Bild, das einen auf einen Schlag 40.000 Jahre zurückversetzt. Denn auf dem Abzug ist zu erkennen, wie man einst als Neandertaler ausgesehen hätte.